"Dann aber wandte sie den Kopf und sah ihren Vater. Und in einem Gefühl überströmender Dankbarkeit griff sie nach seiner Hand und bedeckte sie mit Küssen und Tränen. Bald danach hatte Rudolf mit seiner Tochter Paris für immer verlassen."
Unfassbare Abenteuer in der Unterwelt
Mit einem Stoßseufzer der Erleichterung ließen am 15. Oktober 1843 die Leser der Tageszeitung "Journal des Débats" diese Zeilen auf sich wirken: Endlich waren Rudolf und Fleur-de-Marie glücklich vereint, endlich dem Moloch der Großstadt entkommen! Zwei Jahre lang hatten die Leser jeden Morgen um das Schicksal des heranwachsenden Mädchens gefürchtet und mit dem Vater und vielen anderen Haupt- und Nebenfiguren eine ganze Serie unfassbarer Abenteuer erlebt. Der Verfasser Eugène Sue, ein großer Bewunderer der Indianerromane von James Fenimore Cooper, hatte die Pariser Unterwelt zum Schauplatz seiner Geschichte gemacht und sein Unterfangen mit folgenden Worten angekündigt:
"Wir wollen nun versuchen, dem Leser einige Episoden aus dem Leben anderer Barbaren vor Augen zu stellen, die nicht weniger weit außerhalb der Zivilisation stehen als jene wilden Völkerschaften, deren Eigenarten Cooper so glänzend beschrieben hat."
Ein Zeitungsroman als Straßenfeger
Die Geheimnisse von Paris lautete der Titel des Fortsetzungsromans, der Eugène Sue einen beispiellosen Erfolg bescheren sollte. So etwas hatte es noch nie gegeben: Eine Stunde nach Auslieferung der Zeitung war Paris lahmgelegt - Kranke wurden nicht behandelt, Parlamentssitzungen verschoben. Auf dem Land gingen ganze Dorfgemeinschaften dem Briefträger entgegen, um ihm die Zeitung abzunehmen und zum Lehrer zu eilen, damit er ihnen die neue Folge vorlas.
"‘Der Balg!‘ rief die Alte mit wilder Freude. ‚Dich schickt der Teufel. Ich habe mein Vitriol im Wagen; diesmal werde ich dir dein Lärvchen waschen. Komm, Mann, sieh dich vor, dass sie nicht beißt und halte sie fest, während wir sie einpacken.‘ Der Schulmeister erfasste Marie mit seinen gewaltigen Fäusten, und ehe sie schreien konnte, warf ihr die Eule einen Mantel über den Kopf und wickelte sie fest darin ein."
Entführungen, Mord, Kindstod - der Schriftsteller, der 1804 als Joseph-Marie Sue in Paris geboren worden war, sparte an nichts. Sein Vater, ein berühmter Arzt, hatte ihm das Handwerk des Chirurgen beigebracht. Sue nahm 1823 am Spanienfeldzug teil, vier Jahre später an der Seeschlacht von Navarino und hielt sich zwischendurch auf den Antillen auf. Weil er bald darauf erbte, konnte er sich eine Existenz als schriftstellernder Dandy in Paris leisten - zu seinem modischen Kleidungsstil suchte er sich einen neuen Vornamen aus und nannte sich von nun an Eugène.
Marx und Engels waren beeindruckt
Im Mai 1841 sah Sue im Theater Félix Pyats Sozialdrama "Die beiden Schlosser" und äußerte sich abfällig über die Darstellung der einfachen Leute. Pyat lud ihn ein, ihn am nächsten Tag in die Arbeiterviertel zu begleiten. Sue ging mit - und wandelte sich in einen überzeugten Sozialisten. Als ihn der Herausgeber der Tageszeitung Journal des Débats auf eine Londoner Serie über die Verkommenheit der Großstadt aufmerksam machte und ihm etwas Ähnliches vorschlug, schrieb Sue innerhalb von sechs Wochen 300 Manuskriptseiten. Am 25. Mai 1843 urteilte die Revue Indipendente:
"In den Geheimnissen von Paris tritt der Autor zum ersten Mal dem Elend des Volkes nahe. Der Zweck des Herrn Eugène Sue ist augenscheinlich, das Elend und die Leiden der untersten Klassen der Gesellschaften ins hellste Licht zu setzen. Wir haben manches an seinen Werken auszusetzen. Der Stil zum Beispiel wird zuweilen sehr nachlässig und schlecht. Aber trotz aller Mängel gehören die 'Geheimnisse von Paris' zu den bedeutendsten Romanen unserer Zeit."
Allein in Deutschland brachten zwölf Tageszeitungen den Fortsetzungsroman heraus, es folgte eine Fülle von Buchausgaben. Friedrich Engels und Karl Marx waren beeindruckt. Etliche Nachahmungen der weitverzweigten Gaunergeschichte erschienen, aber niemand ragte an Sue heran. Nach Eugène Sues Tod im August 1857 beriefen sich von Alexandre Dumas bis zu Karl May und Alfred Döblin Generationen von Schriftstellern auf "Die Geheimnisse von Paris".