"Sie hörten die Walzen, dieses Poltern des Eisens, das gewalzt wurde. Das Eisen war erwärmt, die Dampfmaschine strahlte Hitze aus, es war laut, es war staubig, es war sicherlich ein sehr unangenehmer Arbeitsplatz, und es war sicherlich auch nicht allzu hell."
Als August Thyssen 1871 in Styrum bei Mülheim an der Ruhr seine erste eigene Firma eröffnete, herrschte eine Zeit der wirtschaftlichen Hochkonjunktur. Die Gründung des Deutschen Reichs hatte eine Liberalisierung der Handelsgesetze mit sich gebracht. In Thyssens Betrieb wurde Roheisen in sogenannten Puddelöfen geschmolzen, mit langen Stangen durchgerührt und danach zu unterschiedlichen Bauteilen ausgewalzt. Überall wurden solche Materialien aus Eisen und Stahl benötigt – beim Bau von Schiffen, Eisenbahnwaggons, Dächern und Brücken, vor allem aber auch für die Gas- und Wasserrohre in den rasch wachsenden Städten, auf die sich Thyssen früh spezialisierte. Manfred Rasch, Leiter des Thyssen-Archivs:
"Er ist jemand gewesen, der nicht eine Innovation hervorgebracht hat und dadurch groß geworden ist. Er ist ein Händler gewesen, der Handelsgewinne auf einem freien Markt erwirtschaftet hat. Und zwar durch Rationalisierung, durch Anwendung von technischem Know-how."
8.000 Taler als Startkapital
August Thyssen wurde am 17. Mai 1842 in Eschweiler bei Aachen in ein familiäres Umfeld hineingeboren, das - so sein Biograf Jörg Lesczenski – "den Zeitgeist der Industrialisierung atmete". Sein Vater, ein Draht-Fabrikant und Privatbankier, sorgte nicht nur für eine umfassende technische und kaufmännische Berufsausbildung. Er gab seinem ältesten Sohn auch 8.000 Taler als Startkapital an die Hand. Mit einem belgischen Geschäftspartner gründete Thyssen 1867 ein Walzwerk in Duisburg, dessen Wert sich unter seiner kaufmännischen Leitung innerhalb von vier Jahren nahezu vervierfachte. Den anschließenden Sprung in die Selbstständigkeit unterstützte der Vater als stiller Teilhaber mit weiteren 35.000 Talern. Thyssen, mit 1.54 Meter eine äußerlich nicht sonderlich imposante Erscheinung, arbeitete vom frühen Morgen bis tief in die Nacht. Er selber führte seinen Erfolg im Rückblick auch auf seine "äußerste Sparsamkeit" zurück. Jörg Lesczenski:
"Dabei war er vor allem darauf aus, die von ihm benötigten Materialien möglichst spät zu begleichen und auf eine frühe Bezahlung der gelieferten Ware zu drängen."
Die erzielten Gewinne nutzte Thyssen für Investitionen. Eisern verfolgte der spätere "Stahlbaron" sein Ziel, alles, was für die Massenproduktion erforderlich war, unter seine Kontrolle zu bringen. Nach dem Tod des Vaters 1877 trat sein Bruder Joseph in die Firma ein. Dazu dessen Urenkel Stephan Wegener:
"Offensichtlich war es ein recht glückliches Verhältnis, weil sie sehr unterschiedliche Temperamente waren. August war eben der große, expandierende Unternehmer. Und Joseph mehr der Mann, der dafür sorgt, dass im inneren Bereich die einzelnen Dinge entsprechend liefen und es dort zu keinen Schwierigkeiten kam."
Um die Öfen anzufeuern, in denen der Stahl "gekocht" wurde, brauchte Thyssen Kohle. Seit 1883 begann er, schrittweise das Steinkohlen-Bergwerk Gewerkschaft Deutscher Kaiser in Hamborn bei Duisburg aufzukaufen. Mit dem 1891 im benachbarten Bruckhausen eröffneten Stahlwerk drückte er einer ganzen Region seinen Stempel auf. Jürgen Dzudzek, langjähriges Führungsmitglied der IG Metall:
"Es war im Grunde ein 'Wilder Westen', wenn man dat so nennen will. Es gab an keiner Stelle im Ruhrgebiet so ein Bevölkerungswachstum wie anschließend nach der Gründung des Hüttenwerks in Bruckhausen, damit im Hamborner Bereich wie dort."
Um die Versorgung mit Rohstoffen sicherzustellen, kaufte Thyssen ausgedehnte Erz-Felder im In- und Ausland. Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs gingen viele Besitztümer und Beteiligungen im ehemals feindlichen Ausland verloren. Aber noch einmal schaffte es der alternde Patriarch, den Konzern in die neue Zeit hinüberzuretten. Nach Thyssens Tod im April 1926 wurde der Wert seines Firmenimperiums, zu dem unter anderem fünf Hüttenwerke, eine Maschinenfabrik, ein Gas- und Wasserversorgungsunternehmen, ein Schachtbaubetrieb und mehrere Steinkohlenzechen gehörten, auf rund 400 Millionen Reichsmark geschätzt.