"Vollends zerrissen hat mir das Herz der Anblick der Kinder, welche in diesen Fabriken um den Frühling ihres Lebens gebracht werden. Ich sehe hier nur allgemeinen Jammer und schleichendes Elend neben einigen scheinbar Glücklichen, welche sich durch das Blut der Armen, durch die Arbeit der Kinder bereichern."
1828 schildert der Reformpädagoge Adolph Diesterweg seine Eindrücke aus Wuppertal Elberfeld, einem Zentrum der preußischen Textilindustrie. Den wenigen "scheinbar Glücklichen" standen die dicht bevölkerten Elendsviertel gegenüber – und damit: Armut, Hunger, katastrophale hygienische Verhältnisse. Schon Fünfjährige mussten den kargen Lohn der Familien aufbessern.
"Diese Kinder verkrüppeln an Seele und Leib; dieses Tal ist nicht eine Stätte des Glücks, sondern eine Wohnung des menschlichen Elends und des irdischen Jammers."
Gekrümmt und verkrüppelt unter den Webstühlen
Berichte, wie die von Diesterweg, häuften sich in den Industriezonen Preußens, wo die Industrialisierung spät begonnen hatte, in Schlesien oder dem Rheinland dann aber rasant voraneilte. Kinder waren dabei die billigeren Arbeitskräfte, stundenlang hockten sie gekrümmt zwischen Webstühlen oder krochen in die schmalen Schächte der Bergwerke.
Die Folgen waren nicht nur körperliche Verkrüppelung. Für Aufsehen sorgte der Fall einer Zwölfjährigen im Jahr 1837, die sich wegen eines Lohnabzugs in die Wupper gestürzt hatte. Die Öffentlichkeit begann, am Schicksal der Kinder Anteil zu nehmen, meint der Sozialhistoriker Jürgen Kocka.
Die Folgen waren nicht nur körperliche Verkrüppelung. Für Aufsehen sorgte der Fall einer Zwölfjährigen im Jahr 1837, die sich wegen eines Lohnabzugs in die Wupper gestürzt hatte. Die Öffentlichkeit begann, am Schicksal der Kinder Anteil zu nehmen, meint der Sozialhistoriker Jürgen Kocka.
"Man fürchtete, dass eine langfristige gesellschaftliche Beschädigung eintrat."
Schon in den 1820er-Jahren gab es unter Friedrich Wilhelm III. erste Bemühungen, die Kinderarbeit einzuschränken. Teilweise, weil das Militär fürchtete, keine geeigneten Rekruten mehr zu finden.
"Aber die wichtigste Gruppe, die sich gegen diese Kinderarbeit in den Fabriken einsetzte, waren einerseits Reformpädagogen, wie Diesterweg. Und es waren zum anderen Reformbeamte, die versuchten, dieses Preußen zu modernisieren und leistungsfähig zu machen und gleichzeitig auch gesellschaftlich, sozial, moralisch zu verbessern."
Kindheit als Schutzraum
Allmählich setzten sich auch andere Vorstellungen von Kindheit durch, angestoßen vor allem durch die Ideen des französischen Philosophen Jean Jacques Rousseau. Seit 1763 gab es immerhin schon eine für ganz Preußen verbindliche Schulpflicht.
"Mit der Durchsetzung der Schulpflicht hing eben auch die Vorstellung zusammen, dass in einer bestimmten Phase des Lebenslaufes ein Schutzraum gegeben sein muss."
Fürchtete man vor der industriellen Revolution, dass die Kinder verwahrlosten, wenn sie nicht arbeiteten, war nun, angesichts des erschütternden Anblicks der Fabrik-Kinder, das Gegenteil der Fall.
Schon Ende der 1820er-Jahre wurde ein Gesetz zur Einschränkung der Kinderarbeit entworfen, aber da sich konservative und liberale Kräfte um König Friedrich Wilhelm III. einen zähen Machtkampf lieferten, konnte das sogenannte Preußische Regulativ erst am 9. März 1839 in Kraft treten.
Kinder unter neun Jahren durften nun nicht mehr arbeiten, alle anderen bis 16 Jahre nur dann, wenn sie einen Schulnachweis vorweisen konnten. Allerdings:
"In Preußen war es zunächst nicht sehr effektiv. Erst in den 1850er-Jahren wurde eine Novelle dieses Gesetzes erlassen, zu der dann auch die Einführung einer Gewerbe-Inspektion von Fabrik-Inspektoren gehörte. Und erst seit dieser Zeit wurde dieses Verbot der Kinderarbeit allmählich effektiv, so dass in den 1870er-Jahren die Beschäftigung von Kindern unter 14 Jahren quantitativ kaum mehr ins Gewicht fiel."
Nach Schätzungen arbeiten auch heute weltweit über 70 Millionen Kinder in ausbeuterischen Verhältnissen, zum Beispiel in den Goldminen Burkina Fasos. Insgesamt sind es mehr als 200 Millionen zwischen fünf und 17 Jahren. Die Gründe sind die gleichen geblieben: Armut und Elend.