"Es gab Krieg zwischen den Lydern und Medern auf fünf Jahre, in denen oft die Lyder von den Medern, aber auch die Meder von den Lydern besiegt wurden."
Der griechische Geschichtsschreiber Herodot berichtet in seinen "Historien" von einer nicht enden wollenden kriegerischen Auseinandersetzung in Kleinasien. Dann, am 28. Mai 585 vor Christus, kam Bewegung in die verfahrene Lage.
"Indem sie nämlich den Krieg auf beiden Seiten gleich fortführten, trug es sich bei einem Treffen im sechsten Jahre zu, dass mit dem Ausbruch der Schlacht der Tag plötzlich zur Nacht ward. Diese Umwandlung des Tages hat auch Thales von Milet den Ioniern vorausgesagt, mit Vorherbestimmung dieses nämlichen Jahres, in welchem die Veränderung wirklich erfolgte."
Krieger wurden von Naturschauspiel überrascht
Über dem Schlachtgetümmel verfinsterte sich die Sonne – was, so überliefert es Herodot, der damals etwa 40-jährige Mathematiker und Philosoph Thales von Milet vorausberechnet hatte. Der Mond schob sich vor die gleißend helle Sonne und verdeckte sie für gut dreieinhalb Minuten. Der helllichte Tag wurde urplötzlich zur finsteren Nacht: Am Himmel war kein strahlendes Sonnenlicht mehr zu sehen, sondern nur noch das Leuchten der hellsten Sterne und Planeten. Den Kriegsparteien war die Prognose des Thales sicher nicht bekannt – und so wurden die Kämpfer von dem Naturschauspiel völlig überrascht.
"Als nun die Lyder und die Meder die Nacht an die Stelle des Tages treten sahen, gaben sie nicht nur die Schlacht auf, sondern trieben auch um so mehr von beiden Seiten zu einem Friedensschluss."
Die Sonnenfinsternis des Thales von Milet machte Weltpolitik – so will es zumindest die Legende. Doch so viel Ehrfurcht vor der Natur hält der britische Astronom John Mason, einer der erfahrensten Finsternisbeobachter weltweit, für mehr als verständlich.
Himmliches Zeichen an die Kriegsparteien
"Es mag heutzutage vielen Leuten seltsam vorkommen, dass ein Naturereignis so eine Wirkung gehabt haben soll. Aber ich habe selbst sehr viele Sonnenfinsternisse gesehen und dabei immer wieder erlebt, was sie mit den Menschen in meiner Umgebung gemacht haben. So ein Schauspiel ist absolut überwältigend. Es wird plötzlich für einige Minuten dunkel – und dann kommt das Licht zum Glück wieder. Man spürt sofort, dass da etwas geschieht, das viel größer und bedeutender ist als die kleinen Probleme, die wir auf unserem Planeten haben."
Die Sonnenfinsternis hat wohl nicht binnen Minuten zum Friedensschluss geführt. Aber die Kriegsparteien haben das himmlische Zeichen sicher zu deuten gewusst und den langen Konflikt nur zu gern beendet. Herodot schreibt zwar Thales von Milet die Vorhersage dieser Finsternis zu, doch der Geschichtsschreiber hat gut ein Jahrhundert nach den dramatischen Ereignissen gelebt, und er dürfte von den astronomischen Kenntnissen anderer Kulturen nicht viel gewusst haben, mahnt John Mason:
"Es gibt Berichte aus dem alten China, nach denen die Gelehrten schon damals in der Lage waren, Sonnen- und Mondfinsternisse vorherzusagen. Auch von den Babyloniern glauben wir, dass sie – ganz ohne Taschenrechner und Computer – erkannt hatten, dass sich Finsternisse in einem gut achtzehnjährigen Zyklus wiederholen. Sie könnten durchaus vor Thales solche Ereignisse berechnet haben. Ich vermute, wir werden nie sicher wissen, welche die erste vorhergesagte Finsternis war."
Unstrittig ist, dass am 28. Mai 585 vor Christus der Mondschatten einmal quer über die heutige Türkei gezogen ist. Klar ist auch, dass das runde Jubiläum erst in diesem Jahr zu feiern ist, auch wenn einige ganz Eifrige schon im letzten Jahr gejubelt haben. Doch unser Kalender hat kein Jahr Null – bei der Einführung der Jahreszählung ab Christi Geburt im 6. Jahrhundert durch den Mönch Dionysius Exiguus war die Null noch unbekannt. Das historische Jahr 585 vor Christus entspricht daher dem mathematischen Jahr minus 584. Somit kam es erst heute vor 2600 Jahren zur friedensstiftenden totalen Sonnenfinsternis des Thales von Milet.