"Eine Familie in den alten Bundesländern mit zwei Kindern erhält 2.900 Mark Sozialhilfe. Das war die Frage, die ich Ihnen gern gestellt hätte, ob Sie das gleichsetzen mit Armut? Wir von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion tun dies nicht."
So die damalige Familienministerin Hannelore Rönsch, CDU, am 30. September 1999. Im Berliner Bundestag. Heftig wird über das Thema Kinderarmut in Deutschland diskutiert. Rönschs Nachfolgerin, Sybille Bergmann von der SPD entgegnet:
"Nun will ich die Armutsdebatte nicht wieder führen, das haben wir nun ausgiebig getan im vergangenen Jahr. Ich glaube, darum geht es auch gar nicht, zu sagen, ab wann ist man arm. Es geht um Chancengerechtigkeit, das will ich noch mal so deutlich sagen. Alle Kinder müssen wirklich gleiche Chancen in dieser Gesellschaft haben, und natürlich: Als ich 1945 in die Schule gekommen bin, bin ich barfuß gegangen, aber alle anderen in der Klasse auch, das ist der Unterschied."
Weltsozialgipfel verplichtete zu Armutsbericht
Die Frage nach der Armut wird im Verlauf des Tages noch einmal aufgeworfen: Die Fraktionen von SPD und Grünen beantragen, einen regelmäßigen nationalen Armuts- und Reichtumsbericht zu erstellen. Deutschland war seit dem Weltsozialgipfel in Kopenhagen 1995 zur Erstellung eines Armutsberichts verpflichtet, die beiden christlichen Kirchen hatten zwei Jahre später ein Wort zur sozialen Lage in Deutschland vorgelegt. Doch die Politik zog erst nach, als Gerhard Schröder im Herbst `98 Helmut Kohl als Bundeskanzler ablöste, so Jürgen Schupp vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung:
"Der Armuts- und Reichtumsbericht war ein Novum und erst möglich mit dem Regierungswechsel und quasi auch dem Ende des Verleugnens, dass es so was wie Armut gibt, denn das zählt letztlich zu einem gesellschaftlichen Konsens, dass Armutsentwicklung in einem so reichen Land wie Deutschland eigentlich zu vermeiden ist."
Armut als relativer Begriff
Anderthalb Jahre später war es soweit: Am 25. April 2001 stellte Arbeitsminister Walter Riester unter dem Titel "Lebenslagen in Deutschland" den ersten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung vor:
"Grundlage des Berichts ist ein differenziertes Armuts-Verständnis im Sinne des Lebenslagen-Ansatzes, den auch die Europäische Union wählt. Dies heißt: Danach gelten Personen, Familien und Gruppen dann als arm, wenn sie über so geringe materielle, kulturelle und soziale Mittel verfügen, dass sie von der allgemein üblichen Lebensweise ausgeschlossen sind."
Armut ist also kein absoluter, sondern ein relativer Begriff: Wer weniger als 60 Prozent des Mittelwerts verdient, gilt als arm. Und so kam der rund 300-seitige Bericht zum Ergebnis, dass unter Helmut Kohl zwar die Einkommen aller gestiegen waren, aber die der Armen am wenigsten, erklärte Riester:
"In fast allen Lebensbereichen hat im Zeitraum bis zum Jahr 1998 soziale Ausgrenzung zugenommen und Verteilungsgerechtigkeit abgenommen. Die wichtigsten Armutsrisiken liegen in der Erwerbssituation, im Bildungsstatus, in der Familiensituation, und betroffen sind vor allem Arbeitslose, Geringqualifizierte, Alleinerziehende oder Paare mit drei oder mehr Kindern und Zuwanderer."
Armutsgefährdung steigt
Um diese Risiken zu verringern, verwies der Bericht auf zahlreiche Maßnahmen der Regierung: zum Beispiel den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz. Dem ersten Bericht folgten in Vierjahresschritten weitere, mit weiteren Empfehlungen wie der Einführung eines Mindestlohnes. Doch trotz dieser Maßnahmen liegt die Armutsgefährdungsquote mit rund 16 Prozent heute höher als vor 20 Jahren – denn Einkommen und Vermögen der Reichen sind schneller gewachsen als die der Armen. Aber über die Reichen findet sich wenig in den Armuts- und Reichtumsberichten, ohne Vermögenssteuer gibt es auch keine verlässlichen Daten, sagt Wirtschaftsforscher Schupp.
"Politisch ist klar, was man nicht will: die Armut vergrößern. Aber will ich auch wirklich den Reichtum bekämpfen? Will ich so weit gehen, dass Reichtum, wenn man so will, ein Makel ist, oder ist es nicht eigentlich schön, wenn es Menschen sehr gut geht? Da sind wir sehr nah an einer Neid-Debatte: Was ist von diesem Reichtum selbst erworben und was ist vererbt?"
Wird Reichtum in Deutschland dämonisiert?
Eine Debatte, die die Verfasser des Armuts- und Reichtumsberichts vermeiden wollen. Schon im ersten Bericht hieß es, dass Reichtum wichtige gesellschaftliche Funktionen habe und man den in Deutschland vorhandenen Wohlstand nicht dämonisieren wolle. Die Frage, ob der Schutz des Eigentums oder seine soziale Verpflichtung im Vordergrund steht – beides findet sich schließlich in Artikel 14 des Grundgesetzes – lassen sie offen. Darüber wird immer wieder gestritten werden müssen – auch wenn demnächst der neue, sechste Armuts- und Reichtumsbericht erscheint.