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Vor 20 Jahren
Als der erste "Armuts- und Reichtumsbericht" erschien

Dass es in der reichen Bundesrepublik echte Armut gebe, wurde lange gern geleugnet. Erst nach dem Regierungswechsel 1998 beauftragte das Parlament die Bundesregierung, die soziale Lage regelmäßig in einem sogenannten "Armuts- und Reichtumsbericht" zu erfassen. Am 25. April 2001 wurde der erste vorgestellt.

Von Matthias Bertsch |
    Ein Farbfoto zeigt eine Broschüre mit dem Schriftzug "Der vierte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung" "Der vierte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung" ist am 06.03.2013 in Berlin zu sehen. Foto: Stephanie Pilick/dpa Der Bericht Lebenslagen in Deutschland – Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung hier die vierte Ausgabe, erschienen 2013
    Der Bericht "Lebenslagen in Deutschland - Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung" in vierter Ausgabe, erschienen 2013 (picture alliance / dpa | Stephanie Pilick)
    "Eine Familie in den alten Bundesländern mit zwei Kindern erhält 2.900 Mark Sozialhilfe. Das war die Frage, die ich Ihnen gern gestellt hätte, ob Sie das gleichsetzen mit Armut? Wir von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion tun dies nicht."
    So die damalige Familienministerin Hannelore Rönsch, CDU, am 30. September 1999. Im Berliner Bundestag. Heftig wird über das Thema Kinderarmut in Deutschland diskutiert. Rönschs Nachfolgerin, Sybille Bergmann von der SPD entgegnet:
    "Nun will ich die Armutsdebatte nicht wieder führen, das haben wir nun ausgiebig getan im vergangenen Jahr. Ich glaube, darum geht es auch gar nicht, zu sagen, ab wann ist man arm. Es geht um Chancengerechtigkeit, das will ich noch mal so deutlich sagen. Alle Kinder müssen wirklich gleiche Chancen in dieser Gesellschaft haben, und natürlich: Als ich 1945 in die Schule gekommen bin, bin ich barfuß gegangen, aber alle anderen in der Klasse auch, das ist der Unterschied."

    Weltsozialgipfel verplichtete zu Armutsbericht

    Die Frage nach der Armut wird im Verlauf des Tages noch einmal aufgeworfen: Die Fraktionen von SPD und Grünen beantragen, einen regelmäßigen nationalen Armuts- und Reichtumsbericht zu erstellen. Deutschland war seit dem Weltsozialgipfel in Kopenhagen 1995 zur Erstellung eines Armutsberichts verpflichtet, die beiden christlichen Kirchen hatten zwei Jahre später ein Wort zur sozialen Lage in Deutschland vorgelegt. Doch die Politik zog erst nach, als Gerhard Schröder im Herbst `98 Helmut Kohl als Bundeskanzler ablöste, so Jürgen Schupp vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung:
    "Der Armuts- und Reichtumsbericht war ein Novum und erst möglich mit dem Regierungswechsel und quasi auch dem Ende des Verleugnens, dass es so was wie Armut gibt, denn das zählt letztlich zu einem gesellschaftlichen Konsens, dass Armutsentwicklung in einem so reichen Land wie Deutschland eigentlich zu vermeiden ist."

    Armut als relativer Begriff

    Anderthalb Jahre später war es soweit: Am 25. April 2001 stellte Arbeitsminister Walter Riester unter dem Titel "Lebenslagen in Deutschland" den ersten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung vor:
    "Grundlage des Berichts ist ein differenziertes Armuts-Verständnis im Sinne des Lebenslagen-Ansatzes, den auch die Europäische Union wählt. Dies heißt: Danach gelten Personen, Familien und Gruppen dann als arm, wenn sie über so geringe materielle, kulturelle und soziale Mittel verfügen, dass sie von der allgemein üblichen Lebensweise ausgeschlossen sind."
    Soziale Lage in Deutschland - Armut trotz Aufschwung
    Trotz guter Konjunktur und gefüllter Staatskassen steigt in Deutschland die Armut – darunter leiden vor allem Kinder und Jugendliche aus benachteiligten Familien. Für sie fordert der Paritätische Wohlfahrtsverband eine Bildungsoffensive. Der Vorschlag für die Finanzierung lautet: Vermögenssteuer.
    Armut ist also kein absoluter, sondern ein relativer Begriff: Wer weniger als 60 Prozent des Mittelwerts verdient, gilt als arm. Und so kam der rund 300-seitige Bericht zum Ergebnis, dass unter Helmut Kohl zwar die Einkommen aller gestiegen waren, aber die der Armen am wenigsten, erklärte Riester:
    "In fast allen Lebensbereichen hat im Zeitraum bis zum Jahr 1998 soziale Ausgrenzung zugenommen und Verteilungsgerechtigkeit abgenommen. Die wichtigsten Armutsrisiken liegen in der Erwerbssituation, im Bildungsstatus, in der Familiensituation, und betroffen sind vor allem Arbeitslose, Geringqualifizierte, Alleinerziehende oder Paare mit drei oder mehr Kindern und Zuwanderer."

    Armutsgefährdung steigt

    Um diese Risiken zu verringern, verwies der Bericht auf zahlreiche Maßnahmen der Regierung: zum Beispiel den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz. Dem ersten Bericht folgten in Vierjahresschritten weitere, mit weiteren Empfehlungen wie der Einführung eines Mindestlohnes. Doch trotz dieser Maßnahmen liegt die Armutsgefährdungsquote mit rund 16 Prozent heute höher als vor 20 Jahren – denn Einkommen und Vermögen der Reichen sind schneller gewachsen als die der Armen. Aber über die Reichen findet sich wenig in den Armuts- und Reichtumsberichten, ohne Vermögenssteuer gibt es auch keine verlässlichen Daten, sagt Wirtschaftsforscher Schupp.
    "Politisch ist klar, was man nicht will: die Armut vergrößern. Aber will ich auch wirklich den Reichtum bekämpfen? Will ich so weit gehen, dass Reichtum, wenn man so will, ein Makel ist, oder ist es nicht eigentlich schön, wenn es Menschen sehr gut geht? Da sind wir sehr nah an einer Neid-Debatte: Was ist von diesem Reichtum selbst erworben und was ist vererbt?"
    Sozialethiker Friedhelm Hengsbach
    Sozialethiker Hengsbach: - "Mischung aus zutreffenden Analysen und politischer Schönrednerei"
    Beim jüngsten Armutsbericht der Bundesregierung auch von einem Reichtumsbericht zu reden, sei verlogen, sagte der Sozialethiker und Wirtschaftswissenschaftler Friedhelm Hengsbach im DLF. Seit der Abschaffung der Vermögenssteuer gebe es gar keine Daten mehr über Reichtum oberhalb von gewissen Vermögenslagen.

    Wird Reichtum in Deutschland dämonisiert?

    Eine Debatte, die die Verfasser des Armuts- und Reichtumsberichts vermeiden wollen. Schon im ersten Bericht hieß es, dass Reichtum wichtige gesellschaftliche Funktionen habe und man den in Deutschland vorhandenen Wohlstand nicht dämonisieren wolle. Die Frage, ob der Schutz des Eigentums oder seine soziale Verpflichtung im Vordergrund steht – beides findet sich schließlich in Artikel 14 des Grundgesetzes – lassen sie offen. Darüber wird immer wieder gestritten werden müssen – auch wenn demnächst der neue, sechste Armuts- und Reichtumsbericht erscheint.