"Es war ein großbürgerliches Haus. Ich war wahnsinnig verwöhnt. Ich brauchte nichts tun, brauchte nur da zu sein, wurde geliebt."
So erinnert sich die Schriftstellerin Grete Weil an ihre Jugend in München. Dort, im Haus ihres Vaters, des angesehenen assimilierten jüdischen Rechtsanwalts Siegfried Dispeker, kam die 1906 Geborene früh mit Kunst und Literatur in Berührung, verkehrte mit den gleichaltrigen Erika und Klaus Mann und gehörte zum Münchner Verehrerkreis von deren Vater Thomas Mann.
"Dann machte ich das Abitur, erst in München, fiel durch, und dann fuhr ich nach Frankfurt und machte es in Frankfurt. Habe Germanistik studiert bis `33."
Unter den Studienorten der Margarethe Elisabeth Dispeker waren berühmte Universitäten: Berlin, Paris und München. Dort heiratete sie ihre große Liebe: Edgar Weil, promovierter Germanist und Dramaturg an den Münchner Kammerspielen. Der Honigmond schien freilich nur kurz über dem jungen Paar. Hitlers Machtergreifung machte ihn, den Juden, 1933 arbeitslos und raubte ihr gleichfalls jede Zukunftsperspektive.
"Es war sehr schwierig, wegzugehen. Wir wussten gar nicht, was man im Ausland machen kann. Zwei Germanisten! Und ich blieb da, um fotografieren zu lernen, etwas, womit ich Geld verdienen konnte."
"Ich hatte mir vorgenommen, meine Mutter zu retten"
Im Dezember 1935 folgte Grete Weil ihrem Mann ins holländische Exil. In Amsterdam arbeitete sie fortan als Fotografin, bis deutsche Truppen im Mai 1940 die Niederlande besetzten. Die Flucht der beiden Weils nach England misslang. Am 11. Juni 1941 wurde Edgar Weil in Amsterdam verhaftet und im September desselben Jahres im KZ Mauthausen ermordet. In ihrer Verzweiflung diente sich Grete Weil dem "Jüdischen Rat" an, einer Kollaborationseinrichtung im Dienst der deutschen Besatzungsmacht
"Es war eine naive und zum Teil eine kriminelle Vereinigung, aber es war die einzige Möglichkeit, sich zu retten. Und ich hatte mir vorgenommen, meine Mutter zu retten."
Die Rettung der Mutter, die 1938 zu ihr nach Amsterdam hatte flüchten können, gelang. Und auch sie überlebte, versteckt in einer "Matratzengruft", hinter einer mit Weltliteratur bestückten Bücherwand. Hier fälschte Grete Weil Lebensmittelkarten für den Widerstand, fand aber auch zum Schreiben zurück. Es entstand das Theaterstück "Weihnachtslegende 1943", das eigene Erfahrungen in Exil und Untergrund spiegelt. Noch in Amsterdam folgte dann die Erzählung "Ans Ende der Welt", ein erstes literarisches Zeugnis der Deportation holländischer Juden durch die Nazis, das zunächst nur in Ostberlin erschien, im Westen aber trotz guter Kritiken erst 1962 einen Verleger fand.
"Es gab nur noch die eine Aufgabe"
Die ausbleibende Anerkennung hatte Folgen.
"Es hat mich sehr bekümmert, und auch sehr bedrückt und mich auch davon abgehalten, mehr zu schreiben."
Aber dann - je länger sie nach ihrer von jüdischer Seite heftig kritisierten Rückkehr ins "Land der Mörder" wieder in Deutschland lebte - , desto drängender stellte sich ihr ein neues Ziel:
"Es gab nur noch die eine Aufgabe, gegen das Vergessen anzuschreiben. Mit aller Liebe, allem Vermögen, in zäher Verbissenheit. Vergessen tötet die Toten noch einmal. Vergessen durfte nicht sein. Und so schrieb ich weiter. Und immer häufiger wurde ich gelesen, und das war ein schwacher Abglanz von Glück."
Später literarischer Ruhm
Das kleine Glück der häufiger Gelesenen stellte sich für Grete Weil freilich erst spät ein. 74 Jahre war sie alt, als die literarische Öffentlichkeit sie bewusst zur Kenntnis nahm. Anlass war ihr 1980 erschienener Roman "Meine Schwester Antigone". In ihm verknüpft sie kunstvoll drei unterschiedliche Erzählstränge: den Tagesablauf einer in die Jahre gekommenen, nur mäßig erfolgreichen Schriftstellerin, die von Einsamkeit und Schuldgefühl geplagt wird, den Rückblick auf eine unbeschwerte Jugend und umso schwerere, von Judenverfolgung verdunkelte Jahre im holländischen Exil und schließlich die Annäherung an Antigone, die antike Heldin des Widerstands gegen Herrscherwillkür, der sie sich seelenverwandt fühlt, obwohl sie keinen Widerstand leistete.
Mit namhaften Literaturpreisen geehrt, starb Grete Weil am 14. Mai 1999 in Grünwald bei München. Mit ihrem "Antigone"-Roman hatte sie endlich die erhoffte Resonanz gefunden, nicht nur als Schriftstellerin, sondern auch als Zeitzeugin nationalsozialistischen Rassenwahns.