Am 9. September 2000 steht, wie an jedem Samstag, im Nürnberger Stadtteil Langwasser ein weißer Kastenwagen in einer Parkbucht, davor Schnittblumen in Kübeln und Eimern. Immer wieder halten Autofahrer, um Blumen zu kaufen, aber weit und breit ist kein Verkäufer zu sehen. Erst nach 15 Uhr ruft einer von ihnen die Polizei. Als die eintrifft, findet sie im Lieferwagen einen schwer verletzten Mann. Ermittler werden feststellen, dass der 39-jährige Enver Şimşek zu diesem Zeitpunkt bereits seit mindestens einer Stunde am Boden liegt. Acht Kugeln aus zwei Pistolen haben ihn getroffen. Zwei Tage später ist er tot.
"Wer tötete Enver Şimşek? Das ist die Frage, vor der die Beamten der Kripo Nürnberg stehen."
Verdacht in eine bestimmte Richtung gelenkt
Im Jahr darauf wird der Fall in der Fernsehsendung Aktenzeichen XY aufgerollt.
"Der Mann hatte weitreichende Verbindungen. Şimşek kaufte seine Blumen in den Niederlanden ein und verkaufte sie an seinem Wohnort in Fulda, aber auch an Ständen in Süddeutschland."
Moderator Butz Peters lenkt den Verdacht von Anfang an in eine bestimmte Richtung. Die Möglichkeit eines politisch motivierten Anschlags blendet er, wie auch Albert Vögeler von der Kripo Nürnberg, konsequent aus.
"Die möglichen Motive sind vielfältig und reichen von einer Beziehungstat bis zur Blumenhändlerkonkurrenz. Aufgrund unserer Ermittlungen kann jedoch auch eine Abrechnung im Rauschgiftbereich nicht ausgeschlossen werden."
Şimşeks Tochter wundert sich über die Art der Fragen
Die überwiegende Mehrheit aller Morde in Deutschland sind Beziehungstaten, weshalb die Polizei intensiv in Şimşeks Familie ermittelte. Seine Tochter Semiya, damals 14 Jahre alt, wurde aus ihrem Internat zu ihrem sterbenden Vater ins Krankenhaus gebracht – ohne ihr mitzuteilen, was genau mit ihm geschehen war.
"Dann kam mir schon ein Beamter entgegen, der hat mir dann die ersten Fragen gestellt, ob er denn eine Waffe bei sich hatte, ob wir bedroht wurden und sowas. Dann dachte ich, wieso stellt der mir so komische Fragen. Was hat das jetzt damit zu tun?"
"Auf dem rechten Auge einfach blind"
Die "Sonderkommission Şimşek" durchsuchte die Wohnung der Familie im Beisein der Witwe. Immer wieder äußerten die Polizeibeamten den Verdacht, sie könnte, gemeinsam mit Brüdern in der Türkei, ihren Ehemann ermordet haben. Für Semiya Şimşek, die später ein Buch über ihren Vater schrieb, ergibt sich aus den Akten, dass Vorurteile gegen Türken jahrelang die Ermittlungen beeinflussten.
"Als wir gesagt haben, bitte ermitteln Sie doch mal gegen rechts, dann kam immer so ne Antwort, jeder Mensch hat eine dunkle Seite, und woher wollt ihr als Familie wissen, dass er doch nicht mit Drogen gehandelt hat. Man war, jetzt wissen wir das, auf dem rechten Auge einfach blind. Und die Ausrede kam immer: Es fehlt ein Bekennerzeichen."
Zerstörerische Unterstellungen
Genau dies aber, die so genannte Propaganda der Tat, war das Markenzeichen der Terroristen, die in Wirklichkeit für den Tod Şimşeks verantwortlich waren: Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe und ihr selbst ernannter "Nationalsozialistischer Untergrund" bekannten sich bis zu ihrem Ende nie zu ihren Verbrechen. Auch als weitere Morde an Migranten verübt wurden, immer nach ähnlichem Muster, suchte die Polizei die Täter ausschließlich im Umfeld der Opfer. Das Klima der Unterstellung war so zerstörerisch, dass Şimşeks Sohn Abdulkerim fortan schwieg.
"Ich hab immer versucht zu verheimlichen, dass mein Vater ermordet wurde. Viele haben mir gesagt, okay, nicht umsonst sterben so viele Leute. Die müssen was gemacht haben. Und die Zeitungen, die Polizei, mit diesen ganzen Drogensachen. Automatisch waren wir schuldig."
Richtige Schlüsse nach einem Jahrzehnt des Mordens
Enver Şimşek war das erste Opfer des NSU. Bis 2011 ermordeten die Terroristen neun Migranten und eine Polizistin, verübten über 40 Mordversuche und drei Bombenattentate, hinzu kamen mindestens 15 Raubüberfälle. Obwohl das polizeilich gesuchte Trio Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe bereits zum Jahreswechsel 1997/98 in den Untergrund gegangen war, dauerte es bis zum Selbstmord der beiden Männer am 4. November 2011, bis die Strafverfolgungsbehörden und ihr oberster Dienstherr, Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich, die richtigen Schlüsse zogen.
"Es sieht so aus, als ob wir es tatsächlich mit einer neuen Form des rechtsextremistischen Terrorismus zu tun haben. Es wird jetzt darum gehen herauszufinden, welche Dimension das Ganze hat, was sich da auch seit den letzten Morden, die unter der Bezeichnung "Dönermorde" stattgefunden haben, entwickelt hat."
Vermutungen über mindestens 100 NSU-Unterstützer
Der Begriff "Dönermorde" wurde 2011 zum Unwort des Jahres erklärt. Bis heute ist umstritten, ob wirklich nur drei Personen an den Taten beteiligt waren. Beobachter gehen von einem Netzwerk von mindestens 100 Unterstützern und Mitwissern aus, mit dem der NSU über ein Jahrzehnt lang unentdeckt morden konnte.