Ein grausamer Mord sorgte im Juni 1821 für Aufsehen in der deutschen Presse. Der Täter, ein 41-jähriger Perückenmacher aus Leipzig namens Johann Christian Woyzeck, und die fünf Jahre ältere Witwe Johanna Christiane Woost waren ein kreuzunglückliches Liebespaar. Er war arbeitslos, trank zu viel und wenn sie, was häufig vorkam, mit anderen Männern vorliebnahm, schlug er sie. Dennoch konnten die beiden nicht voneinander lassen. Dieses Mal war ein Treffen in einem Leipziger Ausflugslokal verabredet.
"Da ist sie aber offensichtlich nicht gekommen. Und er hatte dann noch am Nachmittag eine Klinge in einem Griff festgesteckt. Und dann trifft er sie zufällig am Abend, begleitet sie nach Hause und ersticht sie dann sozusagen vor dem Hauseingang."
Sieben Mal zugestochen
So Anja Schiemann, Professorin an der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster-Hiltrup . Sie und hat den Fall Woyzeck ausführlich studiert: "Laut Obduktionsbericht, der noch einsehbar ist, hat er sieben Mal zugestochen. Dann hat man ihn beim Wegrennen beobachtet und hat ihn ja dann auch noch in der Tatnacht aufgehalten."
Das alles geschah nicht, wie man überall lesen kann, am 21., sondern am 2. Juni 1821, wie Anja Schiemann herausfand. Und bereits am 9. Juni, habe der Privatgelehrte Adam Bergk in einem Zeitungartike, Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit von Woyzeck angemeldet.
Unzurechnungsfähig durch "Selbstbefleckung"?
Woyzeck hatte gegenüber dem Gericht erklärt, ihm sei der Mord an seiner Freundin von einer imaginären Stimme befohlen worden. Deshalb plädierte Woyzecks Verteidiger auf Unzurechnungsfähigkeit, was dem Täter die Todesstrafe erspart hätte. Viele Gerichtsmediziner waren damals großzügig bei der Bestätigung von Unzurechnungsfähigkeit.
Ein "Lehrbuch der gerichtlichen Arzneiwissenschaft" nannte als Formen des "Wahnsinns": "übermäßige Anstrengung der Geisteskräfte, Missbrauch narkotischer Gifte, allzu öfterer Beischlaf oder Selbstbefleckung und das höhere Alter."
Litt Woyzeck an Schizophrenie?
Das Gericht in Leipzig bestellte also einen Sachverständigen, dem Woyzeck seine Lebensgeschichte erzählte: früh hatte er die Eltern verloren, dann als Söldner in den napoleonischen Kriegen gekämpft, und danach war er nie wieder auf die Beine gekommen. Alkoholexzesse, Armut, Obdachlosigkeit, Angst und Halluzinationen quälten ihn.
Was die Stimme und den Mordbefehl betraf, sagte Woyzeck dem Gutachter: "Am Tage der Mordthat selbst habe er gar keine Stimmen gehört, auch an die Stimme, die ihn Tage zuvor aufgefordert habe, die Woostin zu erstechen, habe er gar nicht gedacht."
Das Gutachten fiel anders aus, als der Angeklagte gehofft hatte: Woyzeck sei, so der Gutachter, zur Tatzeit ein klar denkender Mensch gewesen; er hätte seine Eifersucht unter Kontrolle bringen können und müssen.
"Mit großer Geschicklichkeit hieb ihm der Scharfrichter den Kopf ab"
Im Oktober 1821 wurde Johann Christian Woyzeck zum Tode durch das Schwert verurteilt. Einsprüche und Gnadenersuche konnten die Vollstreckung nur verzögern, nicht aber verhindern. Zur Hinrichtung am 27. August 1824 mitten in Leipzig kamen 5.000 Schaulustige. Einer von ihnen notierte in sein Tagebuch: "Der Delinquent ging mit viel Ruhe allein auf das Schaffott, kniete nieder und betete und mit großer Geschicklichkeit hieb ihm der Scharfrichter den Kopf ab."
Das Gerichtsverfahren war damit beendet. Nicht aber die öffentliche Debatte. Über ein Jahrzehnt nach der Hinrichtung des Täters schrieb der Arzt und Dichter Georg Büchner sein Drama über den tragischen Zusammenhang zwischen sozialem Elend, psychischer Krankheit und Kriminalität. "Woyzeck" heißt das Stück nach seinem Protagonisten, der, während er verzweifelt auf seine Geliebte einsticht, sagt: "Jeder Mensch ist ein Abgrund. Es schwindelt einem, wenn man hinabsieht."