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Vor 200 Jahren
Veröffentlichung von Mary Shelleys "Frankenstein"

Angeblich soll Mary Shelley Inspiration bei ihrer Rheinreise 1814 gefunden haben, als sie die verfallene Burg Frankenstein sah und hörte, dass dort einst ein Alchemist mit Menschenkörpern experimentierte. Leider ist diese Theorie nur eine Legende. Wahr hingegen ist der große Erfolg ihres Schauerromans.

Von Ruth Fühner |
    Boris Karloff als Frankensteins Monster im Film von 1931.
    Boris Karloff als Frankensteins Monster im Film von 1931. (imago/Cinema Publishers Collection)
    Als "Jahr ohne Sommer" wird das Entstehungsjahr von Mary Shelleys berühmtestem Roman in die Geschichte eingehen. Ein Vulkanausbruch in Indonesien verdunkelt 1816 weltweit den Himmel und vernichtet die Ernten. Die englischen Sommergäste in Lord Byrons Villa am Genfer See wissen nichts von diesen Zusammenhängen. Aber der dauernde Regen, die Farbspiele der spektakulären Sonnenuntergänge befördern ihr Interesse an Okkultismus und Naturwissenschaft - und an der Grenze zwischen beiden. Später wird sich Mary Shelley an die abendlichen Unterhaltungen erinnern:
    "Während eines solchen Gesprächs wurden verschiedene philosophische Lehrmeinungen diskutiert, unter anderem auch die Natur der Grundlage des Lebens, und ob es wahrscheinlich sei, dass sie jemals entdeckt und vermittelt werden könne. … Vielleicht könnte man eine Leiche wiederbeleben; galvanische Experimente hatten Hinweise auf dergleichen geliefert. Vielleicht könnte man einzelne Teile einer Kreatur herstellen, zusammensetzen und mit Lebenswärme versorgen."
    Auf der Flucht vor dem Skandal
    Die erst 19-jährige Mary Godwin ist da bereits Mutter zweier auf recht natürliche Weise zustande gekommener Lebewesen. Mit dem Vater, dem noch anderweitig verheirateten Dichter Percy Shelley ist sie – auf der Flucht vor dem Skandal - aus England ausgerissen. Selbstbewusst nennt sie sich die "Tochter zweier Personen von beträchtlichem literarischem Ansehen": nämlich des anarchistischen Philosophen William Godwin und der Feministin Mary Wollstonecraft.
    Eine "Person von beträchtlichem literarischem Ansehen" wird sie selbst werden – nicht zuletzt dank jener nächtlichen Vision, die sich an das oben erwähnte Gespräch angeschlossen haben soll und aus der ihr berühmtester Roman hervorgehen wird.
    "Er bewegt sich, er lebt, er lebt!"
    All seine Energie hat der junge Dr. Frankenstein aufgewendet, hat Alchemie und moderne Naturwissenschaft kombiniert und schließlich, gottgleich, aus totem Stoff ein Lebewesen geschaffen – und dann kann er ihm nicht in die Augen sehen.
    "Es war schon ein Uhr nachts, der Regen prasselte unheilvoll an die Fensterscheiben, und meine Kerze war beinah heruntergebrannt, als ich im Schimmer des halb erloschenen Lichtes sah, wie sich das stumpfe gelbe Auge des Geschöpfes öffnete. Es atmete mühsam, und ein krampfhaftes Zittern ging durch seine Glieder. Wie kann ich meine Gefühle bei dieser Katastrophe schildern, wie den Unhold beschreiben, den ich unter so unendlichen Mühen und mit Sorgfalt gebildet hatte."
    Das namenlose Monster wünscht sich nichts mehr als Liebe
    So schrecklich erscheint dem Schöpfer sein Geschöpf, dass er es von sich stößt. Dabei wünscht sich das namenlose Monster - in der Verfilmung von 1931 unvergesslich verkörpert von Boris Karloff - nichts mehr als Liebe. Liebe aber oder auch nur Zuneigung verweigert ihm Frankenstein. So verliert er nacheinander Bruder, Geliebte und Freund durch die mörderische Rache seiner eigenen Kreatur. Aber geschieht ihm nicht recht?
    "Bedenke, dass ich dein Geschöpf bin. Ich sollte dein Adam sein, aber ich bin eher der gefallene Engel, dem du grundlos die Freude versagst. Ich war gut und freundlich, Unglück hat mich böse werden lassen …"
    Shelleys "Frankenstein" ist lesbar als feministische Kritik an einem Männlichkeitsideal, das den Größenwahn feiert und die Verantwortung scheut. Aus dieser Sicht ist der eigentliche Held des Romans eine scheinbare Randfigur – der Polarforscher Robert Walton, der den sterbenden Viktor Frankenstein von einer Eisscholle rettet. Später wird Walton seine Expedition abbrechen, um seine Mannschaft nicht dem sicheren Tod im Eismeer auszuliefern.
    Politische Gefüge Europas erschüttert
    Doch das diagnostische Potenzial des Romans reicht noch tiefer. Der unheimliche Sommer von 1816 ist nur das buchstäbliche Wetterleuchten am Horizont der Umbruchsepoche, in der er entstand. Die Französische Revolution hat das politische Gefüge Europas erschüttert, die industrielle Revolution stellt das wirtschaftliche und soziale Leben auf den Kopf, die Naturwissenschaften schieben die Grenze des Machbaren immer weiter hinaus. Und zugleich wird deutlich, dass der Mensch die Geister, die er rief, nicht einfach so wieder loswird.
    Eine Ambivalenz, die sich schon zu spiegeln scheint im Erscheinungsdatum von Shelleys "Frankenstein or The modern Prometheus": der 1. Januar 1818. Auf der Schwelle zwischen Altem und Neuem Jahr wirft der Roman einen Blick zurück auf verlorene Unschuld und schaut in eine Zukunft voller Schrecken.