"20 Jahre ist über Pflegeversicherung geredet worden."
Es war in der Tat ein langer und steiniger Weg, den das politische Lieblingskind des streitbaren Arbeits- und Sozialministers der Kohl-Ära, Norbert Blüm, zurücklegen musste.
"Das Projekt ist an mehreren Abgründen vorbeimarschiert."
Ausgangspunkt war die eigentlich erfreuliche Tatsache, dass die Menschen in Deutschland immer älter werden – damit allerdings auch häufiger pflegebedürftig. Und wenn Angehörige das nicht leisten konnten oder wollten, musste man auf Pflegedienste zurückgreifen. Aber die Kosten überstiegen schnell Renten und Ersparnisse, sodass immer mehr Menschen Sozialhilfe brauchten – was wiederum die Kommunen überforderte. Deshalb waren sich spätestens seit den 1980er Jahren eigentlich alle politisch Verantwortlichen einig: Eine Versicherung für den Pflegefall muss her.
Doch hier tauchte die erste Hürde auf, sagt der Gesundheitswissenschaftler Rolf Rosenbrock: die Koalition von CDU/CSU und FDP.
"Da gab es die strittigen Fragen: Soll das in der gesetzlichen Krankenversicherung organisiert sein oder separat? Soll das überhaupt eine Sozialversicherung sein oder eine gewinnwirtschaftliche Versicherungslösung. Und natürlich auch die Frage: Wer soll das letztlich bezahlen?"
Die Jungen zahlen für die Alten
Die Liberalen, Wirtschaftsverbände und auch große Teile der CDU wollten eine privatwirtschaftliche Regelung, der Sozialminister eine paritätische Pflichtversicherung nach dem sozialstaatlichen Umlageprinzip: Die Jungen zahlen für die Alten, Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu gleichen Teilen. Blüm schien schließlich das Rennen zu machen; im Mai 1993 verkündete er stolz die Koalitionsvereinbarung:
"Es wird eine soziale Pflegeversicherung unter dem Dach der gesetzlichen Krankenversicherung, finanziert im Umlageverfahren, eingeführt."
Aber das war nur die halbe Wahrheit. Blüm lehnte ab. Stattdessen sollte es an bundesweiten Feiertagen eine 20-prozentige Lohnkürzung geben. Damit wäre die FDP zufrieden, sagte der Fraktionsvorsitzende Hermann Otto Solms:
"Wir hatten immer gesagt, dass wir jede Kompensation mitmachen, die zum rechnerisch richtigen Ergebnis führt."
Aber dann kam die nächste Hürde: Solche gesetzlich verordneten Lohn- und Gehaltskürzungen wären ein Eingriff in die Tarifautonomie, empörte sich Rudolf Dressler, der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende.
"Die SPD wird so einen Unsinn den Bürgerinnen und Bürgern nicht antun und vor allen Dingen den Pflegebedürftigen nicht antun, die glauben nämlich, Blüm würde für sie die große Lösung bereithalten."
Blüm: "Ein guter Tag für den Sozialstaat Deutschland"
Die SPD war zwar in der Opposition, hatte aber die Mehrheit im Bundesrat und schickte die Gesetzesvorlage mit zahlreichen Änderungswünschen zweimal in den Vermittlungsausschuss. Und dann endlich, am 22. April 1994, verabschiedete der Bundestag das Gesetz zur Pflegeversicherung. Norbert Blüm:
"Wir haben’s zusammen geschafft, deshalb ist das heute ein guter Tag für den Sozialstaat Deutschland."
Seit dem 1. Januar 1995 ist in Deutschland das Risiko der Pflegebedürftigkeit teilweise abgesichert durch eine Pflichtversicherung für alle Arbeitnehmer, die paritätisch finanziert ist. Allerdings wurde als Kompensation für den Arbeitgeberanteil ein Feiertag gestrichen, in den meisten Ländern der Buß- und Bettag.
"Ohne diese Kompromisslösung hätten wir gar keine Pflegeversicherung, und deshalb glaub‘ ich, dass Norbert Blüm sich da große Verdienste erworben hat."
... sagt Rolf Rosenbrock, der lange Mitglied im Sachverständigenrat Gesundheit war, fügt aber hinzu:
"…dass im Falle der Pflegeversicherung das Prinzip der paritätischen Beitragsaufbringung erstmals durchbrochen wurde, das ist ein Sündenfall, an dem wir dann in späteren Jahren immer wieder gesehen haben, wohin es führt."
Auch sonst sieht man heute, dass diese fünfte Säule des Sozialstaats von Beginn an mit ein paar Mängeln behaftet war. Einige, wie etwa den zu engen Begriff der Pflegebedürftigkeit, hat man inzwischen korrigiert und auch Demenz-Kranke berücksichtigt. Die chronische Geldknappheit in dem ständig wachsenden Pflegebereich aber lässt sich offenbar auch mit immer neuen Beitragserhöhungen nicht beheben. Da wird wohl ein ganz neuer Lösungsweg gesucht werden müssen.