Hermes Mannini ging wie jeden Tag aus dem Haus. Der Aufseher im Wartesaal hatte an diesem 2. August 1980 die zweite Schicht. Das hat ihm möglicherweise das Leben gerettet. Denn als er zum Bahnhof kam, da gab es seinen Arbeitsplatz nicht mehr:
"Ich hatte um 12 Uhr Dienstbeginn. Die Bombe war um 10.25 Uhr explodiert, ich war schon aus dem Haus, meine Frau war heillos erschrocken, erst später hat sie erfahren, dass mir nichts passiert war. Es herrschte ein furchtbares Durcheinander. - Ich kam dazu, als man die ersten Leichen ausgrub, von meinen Kollegen hatte es Gott sei Dank niemanden erwischt. Wir fingen sofort an, mit zu helfen bis die Polizei mit Hilfstruppen anrückte und uns wegschickte. Ein Schock war das für mich. - Dort drüben der Bahnsteig von Gleis zwei und drei war voll gestopft mit Menschen.
Der Zug auf Gleis 1 hat zum Glück die Explosion abgemildert. Sonst hätte es weit mehr als 85 Tote gegeben. Vielleicht 3-mal so viel. Dort warteten die Leute dicht gedrängt auf den Zug nach Ancona, die wollten alle ans Meer, es war Samstagmorgen, und der Bahnhof war voller Menschen. Draußen vor dem Bahnhof starben sechs Taxifahrer und auf der anderen Straßenseite hat es einen alten Mann erwischt. Ein durch die Luft fliegender Brocken hat ihn am Kopf getroffen und auf der Stelle getötet. Hier herrschte ein schreckliches Chaos..."
2. August 1980 10.17 Uhr, ein Schweizer Tourist auf dem Rückweg von der Adria filmt die Einfahrt in den Bahnhof von Bologna aus dem Fenster des Adria Express. Sieben Minuten später ist dieses Fenster blutverschmiert. Blut von einem der vielen Opfer, die der Explosionsdruck in alle Richtung geschleudert hatte. Der vom Zug aus gesehen rechte Zwischenbau mit den Wartesälen der 1. und 2. Klasse war vollkommen zerstört.
Es standen nur noch einige Dachbalken und ein Stück der Mauer Richtung Geleise hin. Die Unterführung zu den Bahnsteigen war eingestürzt, dort fand man – erst nach Stunden - die meisten Opfer. Die Überlebenden standen samt und sonders unter Schock, auf den historischen Filmaufnahmen sieht man Helfer, die sich wie Zombies bewegen, Leichen, die zwischen lädierten Autos liegen, hilflose Polizisten, die nach Verstärkung rufen. Irgendwann werden Stapel von weißen Leinentücher verteilt, mehrere Männer klettern damit auf dem Ruinenfeld herum, hier und da nehmen sie eines der Tücher, halten es an einem Ende und schleudern es von sich, so dass es sich öffnet und sanft zur Erde gleitet. Pro Leintuch ein Toter. Dann bricht jemand in verzweifeltes Schluchzen aus.
Einer der ersten, der nach Bologna eilt, ist Staatspräsident Sandro Pertini, der kleine, aber immer resolute alte Mann ist zutiefst erschüttert
"Es gibt keine Worte um auszudrücken wie mir zumute ist. Ich habe gerade zwei Kinder gesehen, auf der Intensivstation, sie liegen im Sterben, ein Mädchen und ein Junge. Es ist zum Verzweifeln."
Die Bilanz ist verheerend. Beim schlimmsten Attentat in der italienischen Geschichte sterben 85 Menschen, zweihundert werden verletzt. Ganze Familien werden ausgelöscht, auch deutsche Urlauber sind unter den Opfern. Opfer faschistischer Attentäter, daran haben die Bologneser von Anfang an keine Zweifel.
Das Attentat von Bologna war der Höhepunkt in einer langen Reihe von Morden und Bombenanschlägen, die das Land zuvor immer wieder in tiefe Verunsicherung gestürzt hatten. Zum Terror der linksextremistischen Roten Brigaden gesellte sich auf der Gegenseite jener der Neofaschisten. Doch während sich die linken Staatszerstörer am Ende als verirrter Haufen in einer ideologischen Sackgasse erwiesen, hatten die Neofaschisten offenbar Freunde in höchsten Kreisen des Staatsapparates. So sind schon die Schuldigen der Bombenattentate in Mailand und in Brescia am Ende der 60-ger Jahre, die wahrscheinlich von Neofaschisten organisiert worden waren, nie gefunden worden. Wut und Verzweiflung klangen aus den Worten des Bologneser Bürgermeisters Renato Zangheri vor Zehntausenden von Menschen, die zur Trauerfeier für die Opfer vor dem Rathaus zusammengekommen waren. Ein regelrechter Aufruf, diesmal die Täter nicht ungestraft davonkommen zu lassen.
"Viel zu oft hat man die Ermittler verunsichert und falsche Spuren gelegt. Viel zu oft wurden die Behörden bei der Aufklärung behindert und Schuldige gedeckt. Die Anteilnahme und die Empörung über das Attentat sind aber heute nur noch dann glaubwürdig, wenn Fakten geschaffen werden."
Der kommunistische Bürgermeister Zangheri hatte sich die üblichen offiziellen Krokodilstränen der Regierung verbeten, die die Opfer beklagte aber nur wenig tat, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen Prompt gab es Kritik : Er habe eine Trauerfeier zu politischer Polemik missbraucht. Wie sich aber herausstellen sollte, war seine Befürchtung nur allzu begründet, dass die Hintermänner des Attentats von höchster Stelle geschützt werden sollten.
"Ich war an diesem Tag auf einem Campingplatz in Sardinien zusammen mit meiner Frau und meinen zwei kleinen Töchtern. Wir waren alle noch im Zelt, als sich die widersprüchlichsten Nachrichten verbreiteten. Zunächst war von einem explodierten Heizkessel die Rede. Erst nach und nach wurde klar, dass es sich um ein grausames Attentat handelte. Ich kam sofort zurück und half meinen Kollegen hier in Bologna bei den Ermittlungen. Alle Welt wollte wissen, wer hinter dem Anschlag steckte und täglich mussten wir Pressekonferenzen geben. Aber es dauerte nicht lange und wir mussten feststellen, dass Geheimdienstleute in den Justizpalast eingeschleust waren, die die klare Aufgabe hatte, unsere Ermittlungen in die Irre zu führen."
Libero Mancuso war vor 25 Jahren ein noch junger Staatsanwalt am Anfang einer steilen Karriere. Er hatte unter Einsatz seines Lebens die umstürzlerischen Machenschaften von Roten Brigaden und der Camorra in Neapel aufgedeckt. Er war auch merkwürdigen Machenschaften der Geheimdienste auf der Spur. Und die Verbindung zwischen rechtem Terror und Freimaurerlogen war ihm ebenfalls bekannt. Mancuso wurde deshalb sofort zur zentralen Figur im Team der Bologneser Ermittlungsrichter. Und er musste mit Entsetzen erleben, wie er und seine Kollegen buchstäblich an der Nase herumgeführt wurden:
"Einer meiner Kollegen war plötzlich verschwunden, ein Militärflugzeug hatte ihn unter falschem Namen und mit falschen Papieren nach Palästina und in den Libanon gebracht. Er suchte nach den angeblichen Attentätern, mal bei den christlichen Maroniten und dann unter Palästinensern. Das war ein heilloses Durcheinander. Dann fand sich plötzlich ein Schreiben einer Loge in Monte Carlo, in dem das Attentat angekündigt wird und das mit den Namen der wichtigsten italienischen Politiker versehen war. Alles gefälscht. Die hatten die Ermittlungsrichter an die Hand genommen und sie auf alle möglichen falschen Fährten geführt."
Monatelang ging das so und es nahm immer absurdere Formen an. Am 13.Januar 1981, also sechs Monate nach dem Attentat wurde im D-Zug von Taranto nach Mailand beim Zwischenstopp in Bologna ein weiteres brisantes Beweisstück gefunden.
"Es handelte sich um einen Koffer mit Sprengstoff, einem Maschinengewehr und falschen Bahntickets. Der Sprengstoff war identisch mit dem beim Attentat verwendeten. Und erst Jahre später stellte sich heraus, dass dieser Koffer von Männern des militärischen Geheimdienstes präpariert worden war, auf Anweisung von Generälen, die dann für diese Tat verurteilt wurden. Die beiden Bahntickets waren auf einen deutschen und einen französischen Staatsbürger ausgestellt. Man wollte uns auf die Spur der Hintermänner des Oktoberfest-Attentats von München und des Anschlags auf die Synagoge in Paris locken. Einer der beiden Namen lautete: ‚Karl Heinz Hoffmann’."
Den gab es tatsächlich: Er war Neonazi, Anführer einer so genannten "Wehrsportgruppe" in Franken, aber mit der Bluttat von Bologna hatte er wohl nichts zu tun. Die Bologneser Justiz tappte im Dunkeln, wurde im Ausland herumgeschickt und landete bei ihren Ermittlungen regelmäßig in Sackgassen. Aber Staatsanwalt Mancuso ließ nicht locker. Schon kurz nach dem Attentat hatte ein Neofaschist geplaudert: Die Spur führte nun eindeutig in die italienische neofaschistische Szene, kurz: das Attentat war hausgemacht. Libero Mancuso stieß auf erschreckende politische Hintergründe. Der Tod von 85 Menschen war Ergebnis und Teil eines lange vorbereiteten Plans, die Demokratie in Italien abzuschaffen und durch ein autoritäres System zu ersetzen: Wie eine Spinne im Netz zog dabei ein gewisser Licio Gelli die Fäden.
Gelli war schon in jungen Jahren Faschist, diente im spanischen Bürgerkrieg bei Francos Truppen, tauchte schließlich in Italien als Vermittler zwischen Geheimdiensten auf und wurde Direktor einer Matratzenfabrik, bevor er mit beispiellosem Geschick seine politische Einflussnahme stetig vergrößerte. Noch heute kursieren Gerüchte, wonach er an Geheimdossiers über alle wichtigen Führungskräfte in Italien geraten war. Er selbst bezeichnete sich als Puppenspieler, der alle in der Hand hatte. Sein Netz war die so genannte "Geheimloge P 2", die Bombenleger seine schnelle Eingreiftruppe. Als man – nur wenige Monate nach der Explosion im Bahnhof von Bologna die Liste der Logenmitglieder im Geheimarchiv von Licio Gelli fand, wurde das Ausmaß der Gefahr für die italienische Demokratie erst richtig klar:
"In dieser Liste standen die Namen aller hochrangigen Militärs, die Chefs der Geheimdienste, eine ganze Reihe von Richtern und Staatsanwälten und natürlich viele Politiker, dann Geschäftsleute. Zur gleichen Zeit fiel uns der sogenannte ‚Piano di Rinascità’, der Erneuerungsplan von Gelli in die Hände, der die Verfassung des Staates ersetzen sollte. Erst hatte Licio Gelli Terrorbanden finanziert , um den Umsturz herbeizuführen, dann hat er sich ab Mitte der 70ger Jahre systematisch in den Staatsapparat eingeschlichen und beherrschte weite Teile der Politik. Wer irgendeine Führungsposition einnehmen wollte, der musste Mitglied der Loge P2 sein. Oder: Wer gute Geschäfte machen wollte... Und nicht nur das: über die P2 kontrollierten die westlichen Geheimdienste unser Land. Denn die P2 hatte alle in der Hand: Politiker, Militärs und unsere Geheimdienste. Alle."
Mitglied der P2 mit der Nummer 1816 war seit 1978 auch der damalige Bauunternehmer Silvio Berlusconi. Bis 1981, als die Loge aufflog, das war ein Dreivierteljahr nach dem Bombenattentat von Bologna. Heute ist er der Premierminister Italiens.
Vor dem Mahnmal der Opfer des Bombenanschlags, im neu aufgebautem Westflügel des Bahnhofs, stehen immer wieder Reisende und lesen die lange Reihe der Namen auf der Marmorplatte an der Wand, sie betrachten die Mulde im Fußboden, dort wo 20 bis 25 kg Sprengstoff, ein Gemisch aus Nitroglyzerin, Ammoniaknitrat, Bariumsulfat und T4 explodiert waren.
"Also hier war die Bombe? An dieser Stelle? Genau kann ich mich nicht mehr erinnern, wo ich war, als es passierte, aber ich weiß noch, dass es Sommer war, Ferienzeit, der 2.August war ein Samstag. Denen ging es damals um die Machtübernahme. Was geblieben ist? Statt Sühne ein einziges Durcheinander, ein geplantes Chaos, man wollte die Wahrheit verschleiern. Da wurden jede Menge Leute gedeckt, da gab es geheime Abmachungen, die niemand durchschaute."
Der Reisende bekreuzigt sich, dann geht er weiter, andere kommen, verweilen ebenfalls, lesen.
Trotz zähen Widerstands von Politikern und Militärs sowie massiver Ablenkungsmanöver seitens der Geheimdienste gelang es den Untersuchungsrichtern in Bologna, sechseinhalb Jahre später, am 19.Januar 1987, endlich den Prozess gegen 20 Angeklagte zu eröffnen. Als Bombenleger werden Francesca Mambro und Giusva Fioravanti zu lebenslanger Haft verurteilt - aber erst am 23. November 1995 und nach insgesamt vier Gerichts-Instanzen. Über fünfzehn Jahre hatten seit dem Mordanschlag ins Land gehen müssen.
Den Drahtzieher Licio Gelli bekommt die Justiz nicht zu fassen. Er wird zwar wegen subversiver Tätigkeit zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt, flieht aber rechtzeitig in die Schweiz. Von dort wird er geraume Zeit später zwar ausgeliefert, aber nur unter der Bedingung, dass er nicht mehr wegen seiner Mitschuld am Bombenattentat von Bologna belangt wird. Für die Schweizer Behörden hatte es sich um einen politischen Prozess gehandelt und eidgenössisches Gesetz verbietet in solchen Fällen eine Abschiebung. Ob da allerdings nur nach Recht und Gesetz geurteilt wurde, darf man zumindest bezweifeln. Gelli hat nach der Aufsehen erregenden Pleite der Ambrosiano Bank Anfang der 80er Jahre schätzungsweise 100 Mio. Dollar auf Schweizer Bankkonten geschafft, mit denen er sich gewisse Privilegien gesichert haben könnte.
Paolo Bollini, der als junger Journalist die schlimmsten Tage seiner Heimatstadt Bologna erlebt hatte, wechselte später seinen Beruf und wurde Geschichtslehrer am Gymnasium. Er schrieb über das Attentat ein kleines Büchlein für seine Schüler, das heute längst vergriffen ist. Dort stellt er auch die Frage, warum das Nachkriegsitalien als einziges Land in Europa immer wieder dramatische Momente erlebte, Terror und Verunsicherung überstehen musste. Zwei wesentliche Ursachen sieht Bollini: zum einen den staatlich gewollten Kampf gegen den Kommunismus um jeden Preis, zum anderen die vorsätzlich nie aufgearbeitete faschistische Vergangenheit.
"Im Nachkriegsdeutschland gab es die Nürnberger Prozesse. So etwas fand bei uns nicht statt. Dabei hat es mit Sicherheit mindestens 900 italienische Kriegsverbrecher gegeben, die üble Taten begangen haben, in Afrika in Slowenien, in Kroatien und in Italien selbst nach der Kapitulation am 8.September 1943. Deutschland ist heute ganz offensichtlich ein demokratisches Land, in dem die Regierungen wechseln. In Italien ist das nicht so. Für mich besteht ein enger Zusammenhang zwischen den nie zur Rechenschaft gezogenen italienischen Kriegsverbrechern und der Tatsache, dass in Italien die Demokratie seit einem halben Jahrhundert blockiert ist und die Macht immer nur von derselben kleinen Gruppe ausgeübt wird. Es ist erwiesen, dass sowohl die Amerikaner wie auch die Engländer kein Interesse an Kriegsverbrecherprozessen in Italien hatten. Und warum? Nun, weil sich die Alliierten diese Gruppe von Kriminellen auch mitten im künftigen Italien warm halten wollten. Und so konnten sie Jahrzehnte lang unsere Politik beeinflussen."
Die Altfaschisten in wichtigen Positionen zu belassen - nach Bollinis Überzeugung war das die beste Möglichkeit, um die Kommunisten in Italien im Zaum zu halten. Zunächst Putschversuche, und dann Bombenanschläge, das seien ihre Methoden gewesen:
"Der so genannten "Strategie der Spannung" folgte schließlich die Strategie der Machtübernahme mithilfe der Massenmedien. Das erfinde ich nicht, denn das steht so im Erneuerungsprogramm von Licio Gelli, das man Anfang der 80ger Jahre bei ihm beschlagnahmt hat. In diesem Pogramm, eine Anleitung zum Staatsstreich, ist das Verschwinden der Linksparteien vorgesehen, die Auflösung der Gewerkschaften, dazu der Aufbau eines privaten Fernsehsystems und gleichzeitig die Aushöhlung des staatlichen Fernsehens RAI. Alles Dinge, die entweder schon vollzogen sind oder noch vollzogen werden."
Licio Gelli behauptete, dass sieben Minister der ersten Regierung Berlusconi in der Vergangenheit Mitglieder in seiner Loge waren. Und 1996, als Berlusconi das Programm seiner Partei Forza Italia vorlegte, bestätigte Gelli nicht ohne Genugtuung, dass Berlusconi seinen "Plan der Nationalen Erneuerung" beinahe komplett übernommen habe. Dass nach dem Attentat von Bologna die "Strategie der Spannung" langsam aber sicher an Zugkraft verlor, bedeutet für den Staatsanwalt Libero Mancuso allerdings noch lange nicht, dass Italiens Demokratie-Probleme völlig gelöst seien:
"Vielleicht ist Italien deshalb nicht mehr in Gefahr, weil bereits alles so gekommen ist, wie bestimmte Kreise es gewollt haben. Wir leben etwa nach Gesetzen, die für ein zivilisiertes Land entwürdigend sind. Mit Reformen, die uns weit zurückwerfen. Wir erleben eine Schwächung all jener Institutionen, die über die Verfassung wachen müssen. Das ist gefährlich für das demokratische Gleichgewicht. Überflüssig zu fragen, ob heute noch Terrorgefahr besteht. Die Dinge haben sich vollzogen, das Desaster ist bereits geschehen. Das Problem ist, wie man da wieder herauskommt."
Mancuso ist verbittert. Nach dem Attentat von Bologna hat er viele Jahre kämpfen müssen, um die Gerechtigkeit, um seinen Ruf als Richter und nicht zuletzt um sein Leben. Die zur Zeit amtierende Regierung schickt nur noch drittklassige Vertreter zu den alljährlichen Trauerfeierlichkeiten im Bahnhof nach Bologna, unter die große Uhr, die noch heute symbolisch 10.25 Uhr anzeigt, als die Bombe explodierte und die Uhr ein für alle mal stehen blieb.
Der große Drahtzieher Licio Gelli lebt noch immer, inzwischen 86 Jahre alt, in seiner üppigen toskanischen Villa, in Wohlstand und bei offenbar noch guter Gesundheit. Das zu lebenslanger Haft verurteilte Handlanger-Paar Giusva Fioravanti und Francesca Mambro, das in der Haft heiratete, hat stets seine Beteiligung am Attentat von Bologna geleugnet, obwohl genügend ernsthafte Beweise gegen sie sprechen. Zugegeben haben sie stattdessen insgesamt 13 grausame politische Morde. Trotzdem sind beide inzwischen wieder auf freiem Fuß.
Es gibt sogar Versuche, sie zu rehabilitieren: im vergangenen Frühjahr sollten sie an der Gründungsveranstaltung einer rechten Gruppierung teilnehmen, zu der auch Ministerpräsident Silvio Berlusconi geladen war. Erst als der es für wenig opportun hielt, sich in aller Öffentlichkeit Seite an Seite mit verurteilten Massenmördern zu zeigen, wurden die beiden Bombenleger wieder ausgeladen. Im Bahnhof von Bologna aber wurde am vergangenen Wochenende das Mahnmal des Attentats von Unbekannten beschmiert – pünktlich zum 25. Jahrestag.
"Ich hatte um 12 Uhr Dienstbeginn. Die Bombe war um 10.25 Uhr explodiert, ich war schon aus dem Haus, meine Frau war heillos erschrocken, erst später hat sie erfahren, dass mir nichts passiert war. Es herrschte ein furchtbares Durcheinander. - Ich kam dazu, als man die ersten Leichen ausgrub, von meinen Kollegen hatte es Gott sei Dank niemanden erwischt. Wir fingen sofort an, mit zu helfen bis die Polizei mit Hilfstruppen anrückte und uns wegschickte. Ein Schock war das für mich. - Dort drüben der Bahnsteig von Gleis zwei und drei war voll gestopft mit Menschen.
Der Zug auf Gleis 1 hat zum Glück die Explosion abgemildert. Sonst hätte es weit mehr als 85 Tote gegeben. Vielleicht 3-mal so viel. Dort warteten die Leute dicht gedrängt auf den Zug nach Ancona, die wollten alle ans Meer, es war Samstagmorgen, und der Bahnhof war voller Menschen. Draußen vor dem Bahnhof starben sechs Taxifahrer und auf der anderen Straßenseite hat es einen alten Mann erwischt. Ein durch die Luft fliegender Brocken hat ihn am Kopf getroffen und auf der Stelle getötet. Hier herrschte ein schreckliches Chaos..."
2. August 1980 10.17 Uhr, ein Schweizer Tourist auf dem Rückweg von der Adria filmt die Einfahrt in den Bahnhof von Bologna aus dem Fenster des Adria Express. Sieben Minuten später ist dieses Fenster blutverschmiert. Blut von einem der vielen Opfer, die der Explosionsdruck in alle Richtung geschleudert hatte. Der vom Zug aus gesehen rechte Zwischenbau mit den Wartesälen der 1. und 2. Klasse war vollkommen zerstört.
Es standen nur noch einige Dachbalken und ein Stück der Mauer Richtung Geleise hin. Die Unterführung zu den Bahnsteigen war eingestürzt, dort fand man – erst nach Stunden - die meisten Opfer. Die Überlebenden standen samt und sonders unter Schock, auf den historischen Filmaufnahmen sieht man Helfer, die sich wie Zombies bewegen, Leichen, die zwischen lädierten Autos liegen, hilflose Polizisten, die nach Verstärkung rufen. Irgendwann werden Stapel von weißen Leinentücher verteilt, mehrere Männer klettern damit auf dem Ruinenfeld herum, hier und da nehmen sie eines der Tücher, halten es an einem Ende und schleudern es von sich, so dass es sich öffnet und sanft zur Erde gleitet. Pro Leintuch ein Toter. Dann bricht jemand in verzweifeltes Schluchzen aus.
Einer der ersten, der nach Bologna eilt, ist Staatspräsident Sandro Pertini, der kleine, aber immer resolute alte Mann ist zutiefst erschüttert
"Es gibt keine Worte um auszudrücken wie mir zumute ist. Ich habe gerade zwei Kinder gesehen, auf der Intensivstation, sie liegen im Sterben, ein Mädchen und ein Junge. Es ist zum Verzweifeln."
Die Bilanz ist verheerend. Beim schlimmsten Attentat in der italienischen Geschichte sterben 85 Menschen, zweihundert werden verletzt. Ganze Familien werden ausgelöscht, auch deutsche Urlauber sind unter den Opfern. Opfer faschistischer Attentäter, daran haben die Bologneser von Anfang an keine Zweifel.
Das Attentat von Bologna war der Höhepunkt in einer langen Reihe von Morden und Bombenanschlägen, die das Land zuvor immer wieder in tiefe Verunsicherung gestürzt hatten. Zum Terror der linksextremistischen Roten Brigaden gesellte sich auf der Gegenseite jener der Neofaschisten. Doch während sich die linken Staatszerstörer am Ende als verirrter Haufen in einer ideologischen Sackgasse erwiesen, hatten die Neofaschisten offenbar Freunde in höchsten Kreisen des Staatsapparates. So sind schon die Schuldigen der Bombenattentate in Mailand und in Brescia am Ende der 60-ger Jahre, die wahrscheinlich von Neofaschisten organisiert worden waren, nie gefunden worden. Wut und Verzweiflung klangen aus den Worten des Bologneser Bürgermeisters Renato Zangheri vor Zehntausenden von Menschen, die zur Trauerfeier für die Opfer vor dem Rathaus zusammengekommen waren. Ein regelrechter Aufruf, diesmal die Täter nicht ungestraft davonkommen zu lassen.
"Viel zu oft hat man die Ermittler verunsichert und falsche Spuren gelegt. Viel zu oft wurden die Behörden bei der Aufklärung behindert und Schuldige gedeckt. Die Anteilnahme und die Empörung über das Attentat sind aber heute nur noch dann glaubwürdig, wenn Fakten geschaffen werden."
Der kommunistische Bürgermeister Zangheri hatte sich die üblichen offiziellen Krokodilstränen der Regierung verbeten, die die Opfer beklagte aber nur wenig tat, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen Prompt gab es Kritik : Er habe eine Trauerfeier zu politischer Polemik missbraucht. Wie sich aber herausstellen sollte, war seine Befürchtung nur allzu begründet, dass die Hintermänner des Attentats von höchster Stelle geschützt werden sollten.
"Ich war an diesem Tag auf einem Campingplatz in Sardinien zusammen mit meiner Frau und meinen zwei kleinen Töchtern. Wir waren alle noch im Zelt, als sich die widersprüchlichsten Nachrichten verbreiteten. Zunächst war von einem explodierten Heizkessel die Rede. Erst nach und nach wurde klar, dass es sich um ein grausames Attentat handelte. Ich kam sofort zurück und half meinen Kollegen hier in Bologna bei den Ermittlungen. Alle Welt wollte wissen, wer hinter dem Anschlag steckte und täglich mussten wir Pressekonferenzen geben. Aber es dauerte nicht lange und wir mussten feststellen, dass Geheimdienstleute in den Justizpalast eingeschleust waren, die die klare Aufgabe hatte, unsere Ermittlungen in die Irre zu führen."
Libero Mancuso war vor 25 Jahren ein noch junger Staatsanwalt am Anfang einer steilen Karriere. Er hatte unter Einsatz seines Lebens die umstürzlerischen Machenschaften von Roten Brigaden und der Camorra in Neapel aufgedeckt. Er war auch merkwürdigen Machenschaften der Geheimdienste auf der Spur. Und die Verbindung zwischen rechtem Terror und Freimaurerlogen war ihm ebenfalls bekannt. Mancuso wurde deshalb sofort zur zentralen Figur im Team der Bologneser Ermittlungsrichter. Und er musste mit Entsetzen erleben, wie er und seine Kollegen buchstäblich an der Nase herumgeführt wurden:
"Einer meiner Kollegen war plötzlich verschwunden, ein Militärflugzeug hatte ihn unter falschem Namen und mit falschen Papieren nach Palästina und in den Libanon gebracht. Er suchte nach den angeblichen Attentätern, mal bei den christlichen Maroniten und dann unter Palästinensern. Das war ein heilloses Durcheinander. Dann fand sich plötzlich ein Schreiben einer Loge in Monte Carlo, in dem das Attentat angekündigt wird und das mit den Namen der wichtigsten italienischen Politiker versehen war. Alles gefälscht. Die hatten die Ermittlungsrichter an die Hand genommen und sie auf alle möglichen falschen Fährten geführt."
Monatelang ging das so und es nahm immer absurdere Formen an. Am 13.Januar 1981, also sechs Monate nach dem Attentat wurde im D-Zug von Taranto nach Mailand beim Zwischenstopp in Bologna ein weiteres brisantes Beweisstück gefunden.
"Es handelte sich um einen Koffer mit Sprengstoff, einem Maschinengewehr und falschen Bahntickets. Der Sprengstoff war identisch mit dem beim Attentat verwendeten. Und erst Jahre später stellte sich heraus, dass dieser Koffer von Männern des militärischen Geheimdienstes präpariert worden war, auf Anweisung von Generälen, die dann für diese Tat verurteilt wurden. Die beiden Bahntickets waren auf einen deutschen und einen französischen Staatsbürger ausgestellt. Man wollte uns auf die Spur der Hintermänner des Oktoberfest-Attentats von München und des Anschlags auf die Synagoge in Paris locken. Einer der beiden Namen lautete: ‚Karl Heinz Hoffmann’."
Den gab es tatsächlich: Er war Neonazi, Anführer einer so genannten "Wehrsportgruppe" in Franken, aber mit der Bluttat von Bologna hatte er wohl nichts zu tun. Die Bologneser Justiz tappte im Dunkeln, wurde im Ausland herumgeschickt und landete bei ihren Ermittlungen regelmäßig in Sackgassen. Aber Staatsanwalt Mancuso ließ nicht locker. Schon kurz nach dem Attentat hatte ein Neofaschist geplaudert: Die Spur führte nun eindeutig in die italienische neofaschistische Szene, kurz: das Attentat war hausgemacht. Libero Mancuso stieß auf erschreckende politische Hintergründe. Der Tod von 85 Menschen war Ergebnis und Teil eines lange vorbereiteten Plans, die Demokratie in Italien abzuschaffen und durch ein autoritäres System zu ersetzen: Wie eine Spinne im Netz zog dabei ein gewisser Licio Gelli die Fäden.
Gelli war schon in jungen Jahren Faschist, diente im spanischen Bürgerkrieg bei Francos Truppen, tauchte schließlich in Italien als Vermittler zwischen Geheimdiensten auf und wurde Direktor einer Matratzenfabrik, bevor er mit beispiellosem Geschick seine politische Einflussnahme stetig vergrößerte. Noch heute kursieren Gerüchte, wonach er an Geheimdossiers über alle wichtigen Führungskräfte in Italien geraten war. Er selbst bezeichnete sich als Puppenspieler, der alle in der Hand hatte. Sein Netz war die so genannte "Geheimloge P 2", die Bombenleger seine schnelle Eingreiftruppe. Als man – nur wenige Monate nach der Explosion im Bahnhof von Bologna die Liste der Logenmitglieder im Geheimarchiv von Licio Gelli fand, wurde das Ausmaß der Gefahr für die italienische Demokratie erst richtig klar:
"In dieser Liste standen die Namen aller hochrangigen Militärs, die Chefs der Geheimdienste, eine ganze Reihe von Richtern und Staatsanwälten und natürlich viele Politiker, dann Geschäftsleute. Zur gleichen Zeit fiel uns der sogenannte ‚Piano di Rinascità’, der Erneuerungsplan von Gelli in die Hände, der die Verfassung des Staates ersetzen sollte. Erst hatte Licio Gelli Terrorbanden finanziert , um den Umsturz herbeizuführen, dann hat er sich ab Mitte der 70ger Jahre systematisch in den Staatsapparat eingeschlichen und beherrschte weite Teile der Politik. Wer irgendeine Führungsposition einnehmen wollte, der musste Mitglied der Loge P2 sein. Oder: Wer gute Geschäfte machen wollte... Und nicht nur das: über die P2 kontrollierten die westlichen Geheimdienste unser Land. Denn die P2 hatte alle in der Hand: Politiker, Militärs und unsere Geheimdienste. Alle."
Mitglied der P2 mit der Nummer 1816 war seit 1978 auch der damalige Bauunternehmer Silvio Berlusconi. Bis 1981, als die Loge aufflog, das war ein Dreivierteljahr nach dem Bombenattentat von Bologna. Heute ist er der Premierminister Italiens.
Vor dem Mahnmal der Opfer des Bombenanschlags, im neu aufgebautem Westflügel des Bahnhofs, stehen immer wieder Reisende und lesen die lange Reihe der Namen auf der Marmorplatte an der Wand, sie betrachten die Mulde im Fußboden, dort wo 20 bis 25 kg Sprengstoff, ein Gemisch aus Nitroglyzerin, Ammoniaknitrat, Bariumsulfat und T4 explodiert waren.
"Also hier war die Bombe? An dieser Stelle? Genau kann ich mich nicht mehr erinnern, wo ich war, als es passierte, aber ich weiß noch, dass es Sommer war, Ferienzeit, der 2.August war ein Samstag. Denen ging es damals um die Machtübernahme. Was geblieben ist? Statt Sühne ein einziges Durcheinander, ein geplantes Chaos, man wollte die Wahrheit verschleiern. Da wurden jede Menge Leute gedeckt, da gab es geheime Abmachungen, die niemand durchschaute."
Der Reisende bekreuzigt sich, dann geht er weiter, andere kommen, verweilen ebenfalls, lesen.
Trotz zähen Widerstands von Politikern und Militärs sowie massiver Ablenkungsmanöver seitens der Geheimdienste gelang es den Untersuchungsrichtern in Bologna, sechseinhalb Jahre später, am 19.Januar 1987, endlich den Prozess gegen 20 Angeklagte zu eröffnen. Als Bombenleger werden Francesca Mambro und Giusva Fioravanti zu lebenslanger Haft verurteilt - aber erst am 23. November 1995 und nach insgesamt vier Gerichts-Instanzen. Über fünfzehn Jahre hatten seit dem Mordanschlag ins Land gehen müssen.
Den Drahtzieher Licio Gelli bekommt die Justiz nicht zu fassen. Er wird zwar wegen subversiver Tätigkeit zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt, flieht aber rechtzeitig in die Schweiz. Von dort wird er geraume Zeit später zwar ausgeliefert, aber nur unter der Bedingung, dass er nicht mehr wegen seiner Mitschuld am Bombenattentat von Bologna belangt wird. Für die Schweizer Behörden hatte es sich um einen politischen Prozess gehandelt und eidgenössisches Gesetz verbietet in solchen Fällen eine Abschiebung. Ob da allerdings nur nach Recht und Gesetz geurteilt wurde, darf man zumindest bezweifeln. Gelli hat nach der Aufsehen erregenden Pleite der Ambrosiano Bank Anfang der 80er Jahre schätzungsweise 100 Mio. Dollar auf Schweizer Bankkonten geschafft, mit denen er sich gewisse Privilegien gesichert haben könnte.
Paolo Bollini, der als junger Journalist die schlimmsten Tage seiner Heimatstadt Bologna erlebt hatte, wechselte später seinen Beruf und wurde Geschichtslehrer am Gymnasium. Er schrieb über das Attentat ein kleines Büchlein für seine Schüler, das heute längst vergriffen ist. Dort stellt er auch die Frage, warum das Nachkriegsitalien als einziges Land in Europa immer wieder dramatische Momente erlebte, Terror und Verunsicherung überstehen musste. Zwei wesentliche Ursachen sieht Bollini: zum einen den staatlich gewollten Kampf gegen den Kommunismus um jeden Preis, zum anderen die vorsätzlich nie aufgearbeitete faschistische Vergangenheit.
"Im Nachkriegsdeutschland gab es die Nürnberger Prozesse. So etwas fand bei uns nicht statt. Dabei hat es mit Sicherheit mindestens 900 italienische Kriegsverbrecher gegeben, die üble Taten begangen haben, in Afrika in Slowenien, in Kroatien und in Italien selbst nach der Kapitulation am 8.September 1943. Deutschland ist heute ganz offensichtlich ein demokratisches Land, in dem die Regierungen wechseln. In Italien ist das nicht so. Für mich besteht ein enger Zusammenhang zwischen den nie zur Rechenschaft gezogenen italienischen Kriegsverbrechern und der Tatsache, dass in Italien die Demokratie seit einem halben Jahrhundert blockiert ist und die Macht immer nur von derselben kleinen Gruppe ausgeübt wird. Es ist erwiesen, dass sowohl die Amerikaner wie auch die Engländer kein Interesse an Kriegsverbrecherprozessen in Italien hatten. Und warum? Nun, weil sich die Alliierten diese Gruppe von Kriminellen auch mitten im künftigen Italien warm halten wollten. Und so konnten sie Jahrzehnte lang unsere Politik beeinflussen."
Die Altfaschisten in wichtigen Positionen zu belassen - nach Bollinis Überzeugung war das die beste Möglichkeit, um die Kommunisten in Italien im Zaum zu halten. Zunächst Putschversuche, und dann Bombenanschläge, das seien ihre Methoden gewesen:
"Der so genannten "Strategie der Spannung" folgte schließlich die Strategie der Machtübernahme mithilfe der Massenmedien. Das erfinde ich nicht, denn das steht so im Erneuerungsprogramm von Licio Gelli, das man Anfang der 80ger Jahre bei ihm beschlagnahmt hat. In diesem Pogramm, eine Anleitung zum Staatsstreich, ist das Verschwinden der Linksparteien vorgesehen, die Auflösung der Gewerkschaften, dazu der Aufbau eines privaten Fernsehsystems und gleichzeitig die Aushöhlung des staatlichen Fernsehens RAI. Alles Dinge, die entweder schon vollzogen sind oder noch vollzogen werden."
Licio Gelli behauptete, dass sieben Minister der ersten Regierung Berlusconi in der Vergangenheit Mitglieder in seiner Loge waren. Und 1996, als Berlusconi das Programm seiner Partei Forza Italia vorlegte, bestätigte Gelli nicht ohne Genugtuung, dass Berlusconi seinen "Plan der Nationalen Erneuerung" beinahe komplett übernommen habe. Dass nach dem Attentat von Bologna die "Strategie der Spannung" langsam aber sicher an Zugkraft verlor, bedeutet für den Staatsanwalt Libero Mancuso allerdings noch lange nicht, dass Italiens Demokratie-Probleme völlig gelöst seien:
"Vielleicht ist Italien deshalb nicht mehr in Gefahr, weil bereits alles so gekommen ist, wie bestimmte Kreise es gewollt haben. Wir leben etwa nach Gesetzen, die für ein zivilisiertes Land entwürdigend sind. Mit Reformen, die uns weit zurückwerfen. Wir erleben eine Schwächung all jener Institutionen, die über die Verfassung wachen müssen. Das ist gefährlich für das demokratische Gleichgewicht. Überflüssig zu fragen, ob heute noch Terrorgefahr besteht. Die Dinge haben sich vollzogen, das Desaster ist bereits geschehen. Das Problem ist, wie man da wieder herauskommt."
Mancuso ist verbittert. Nach dem Attentat von Bologna hat er viele Jahre kämpfen müssen, um die Gerechtigkeit, um seinen Ruf als Richter und nicht zuletzt um sein Leben. Die zur Zeit amtierende Regierung schickt nur noch drittklassige Vertreter zu den alljährlichen Trauerfeierlichkeiten im Bahnhof nach Bologna, unter die große Uhr, die noch heute symbolisch 10.25 Uhr anzeigt, als die Bombe explodierte und die Uhr ein für alle mal stehen blieb.
Der große Drahtzieher Licio Gelli lebt noch immer, inzwischen 86 Jahre alt, in seiner üppigen toskanischen Villa, in Wohlstand und bei offenbar noch guter Gesundheit. Das zu lebenslanger Haft verurteilte Handlanger-Paar Giusva Fioravanti und Francesca Mambro, das in der Haft heiratete, hat stets seine Beteiligung am Attentat von Bologna geleugnet, obwohl genügend ernsthafte Beweise gegen sie sprechen. Zugegeben haben sie stattdessen insgesamt 13 grausame politische Morde. Trotzdem sind beide inzwischen wieder auf freiem Fuß.
Es gibt sogar Versuche, sie zu rehabilitieren: im vergangenen Frühjahr sollten sie an der Gründungsveranstaltung einer rechten Gruppierung teilnehmen, zu der auch Ministerpräsident Silvio Berlusconi geladen war. Erst als der es für wenig opportun hielt, sich in aller Öffentlichkeit Seite an Seite mit verurteilten Massenmördern zu zeigen, wurden die beiden Bombenleger wieder ausgeladen. Im Bahnhof von Bologna aber wurde am vergangenen Wochenende das Mahnmal des Attentats von Unbekannten beschmiert – pünktlich zum 25. Jahrestag.