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Vor 25 Jahren: Die RAF und der Deutsche Herbst

Remme: Die führenden Köpfe der RAF waren tot, der Deutsche Herbst zu Ende. Über diesen Tag, über diese Zeit möchte ich mit Stefan Aust sprechen. Guten Tag, Herr Aust.

    Aust: Guten Tag.

    Remme: Herr Aust, es gibt ja häufig Erinnerungen an Ereignisse aus vergangenen Jahren und man fragt sich: Mensch, ist das wirklich schon so lange her. Mir geht es mit dem Herbst 77 gerade umgekehrt. Er erscheint mir fast unwirklich, unendlich lange zurück zu liegen. Wie ist das für Sie?

    Aust: Nein, ich wundere mich, dass das schon 25 Jahre her ist, muss ich sagen. Für mich sind die Ereignisse immer noch wahnsinnig präsent, aber das hat natürlich auch etwas damit zu tun, dass ich mich eben im Laufe der Jahre sehr intensiv mit den Recherchen, mit den Ereignissen beschäftigt habe. Für mich ist das sehr präsent.

    Remme: Was war Ihr erster Gedanke, als Sie von der erfolgreichen Stürmung der Landshut hörten?

    Aust: Es war natürlich eine Erleichterung, und es war eine Erleichterung für alle, aber es ist mir natürlich auch sofort der Gedanke durch den Kopf gegangen, dass dies sicherlich das Ende von Hanns Martin Schleyer sein wird.

    Remme: Auch das Ende der Terroristen in Stammheim?

    Aust: Das ist für mich sozusagen gleichzeitig gekommen. Ich war morgens im Auto unterwegs und habe die beiden Informationen gleichzeitig gehört.

    Remme: Nachdem was Sie über die RAF wissen, waren die Ereignisse in Stammheim nach Mogadischu von zwingender Konsequenz?

    Aust: Ja, ich glaube schon, aber sie waren nicht nur nach Mogadischu von zwingender Konsequenz. Ich glaube, dass der ganze Trip der Baader-Meinhof-Gruppe nicht nur mörderisch, sondern auch selbstmörderisch war. Es war von Anfang an darauf angelegt, sozusagen als Märtyrer zu sterben, im Kampf gegen den Staat, den man herausgefordert hatte, zu sterben. Ich glaube, das lag von Anfang an in der Idee der Sache.

    Remme: Für all diese Leute oder nur für einige, denn wenn wir jetzt die Namen Baader, Ensslin und Raspe schnell in einem Atemzug nennen, so übersehen wir ja manchmal, dass es sich um sehr unterschiedliche Menschen gehandelt hat.

    Aust: Das ist schon richtig, aber für den Kern der Gruppe galt das ganz bestimmt. Ulrike Meinhof hatte sich ja schon vorher umgebracht, also insofern war das Selbstmörderische von vornherein angelegt. Ich habe damals, als ich die ganzen Recherchen angestellt habe, viele Kassiber gelesen, und aus diesen Kassibern, aus diesen Zellenzirkularen kam dieser Gedanke immer wieder ganz weit nach vorne. Ich habe einmal ein Zitat aus dem Stück 'Die Maßnahme' von Berthold Brecht gefunden, welches im übrigen auch als Buch in der Zelle nachher gefunden worden ist. Darin heißt es: 'Furchtbar ist es zu töten, aber nicht andere nur, auch uns töten wir, wenn es Not tut, da nur mit Gewalt diese tötende Welt zu verändern ist, wie jeder Lebende weiß.' Daraus können Sie sehen, es war von vornherein, es war immer so angelegt. Aber es gab natürlich viele Leute, die in der zweiten Generation dort reingekommen sind, die, wenn Sie so wollen, Mitläufer waren oder die voll Empörung und Betroffenheit über die angebliche Isolationsfolter in den Gefängnissen, über die Häftlingskollektive in die RAF reingekommen sind. Für die galt das vielleicht nicht so sehr stark in dem Maße, aber ich glaube, für die erste Generation, für den Kern der Gruppe galt das auf jeden Fall.

    Remme: Sie haben den Namen Ulrike Meinhof erwähnt. Müssen die Ereignisse vom 18. Oktober 77 mit diesem Selbstmord ein Jahr früher in einem Zusammenhang gesehen werden?

    Aust: Ich denke schon. Sie dürfen ja nicht vergessen, dass sozusagen die aktive Zeit der ersten Generation der RAF relativ kurz war. Das waren vielleicht eineinhalb Jahre, wenn man den Beginn der RAF so datiert, dass es die Baader-Befreiung gewesen ist. Und dann eben haben sie Banküberfälle gemacht, es gab ein paar Bombenanschläge. Das dauerte aber nicht so wahnsinnig lange. Die wirkliche Existenz der RAF, sozusagen die politische Existenz, begann erst im Gefängnis selbst. Da hat der Staat ihnen ja auch den Gefallen getan, ihnen mit dem Hochsicherheitstrakt und dem Gerichtssaal sozusagen eine Hauptstadt, namens Stammheim zu geben, und dadurch ist die RAF erst zu der Bedeutung im öffentlichen Bewusstsein gekommen, die sie gehabt hat, und dadurch hat man natürlich auch ganz viele Leute später an die RAF herangezogen. Und in dieser isolierten Situation im Gefängnis sind die natürlich auch aufeinander losgegangen, und die Hoffnungslosigkeit ihrer Situation wurde ihnen natürlich dadurch auch immer deutlicher, vor allen Dingen dann, als der Prozess zu Ende war und die Bühne zur öffentlichen Darstellung nicht mehr da war. Deswegen glaube ich, dass das Eingeständnis des Scheiterns bei Ulrike Meinhof eben schon ein Jahr vorher zu sehen ist, und was könnte ein größeres Eingeständnis des Scheiterns sein als eben die Erkenntnis, dass nicht einmal die Entführung eines Flugzeuges mit zig Urlaubern an Bord die Bundesregierung zum Einknicken bringen kann.

    Remme: Es gab viele, die an diesem Morgen vor 25 Jahren zunächst an Selbstmord nicht glauben wollten, die von Mord in Stammheim sprachen. War das damals für Sie nachvollziehbar?

    Aust: Es war für mich insofern nachvollziehbar, als natürlich die Ereignisse dermaßen spektakulär und sensationell und überhaupt nicht nachzuvollziehen waren, dass man sich das eigentlich nicht vorstellen konnte. Man konnte sich vor allen Dingen nicht vorstellen, dass die in der Lage sind, sich in der Zelle in der Haftanstalt zu erschießen. Das müssen Sie sich mal vorstellen: Man hat uns jahrelang, wirklich jahrelang, erzählt, dieses ist Isolationshaft, dies ist die Isolationsfolter. Der Staat hat extra einen Hochsicherheitstrakt gebaut. Man hat ein eigenes Gerichtsgebäude gebaut. Die Kontrollen waren dermaßen scharf, dass sich kein Lebender wirklich vorstellen konnte, dass die in der Lage waren, dort Schusswaffen reinzubringen. Und wenn sie nicht in der Lage sind, Schusswaffen reinzubringen und werden dann trotzdem erschossen aufgefunden, denkt natürlich jeder sofort daran, es muss logischerweise jemand anderes gewesen sein. Aber es hat sich hinterher sehr genau aufklären lassen, wie das alles vonstatten gegangen ist. Die Schusswaffen sind da reingeschmuggelt worden. Daran gibt es nicht den geringsten Zweifel. Es ist inzwischen bekannt, auf welchem Wege. Es ist bekannt, welche Waffen das waren. Es ist bekannt, wer sie reingeschmuggelt hat, wie man es gemacht hat, wie sie versteckt worden sind, wo sie versteckt worden sind. Das ist alles – ich würde mal sagen – zu fast hundert Prozent aufgeklärt, wenn es natürlich auch immer bei jedem Vorgang, den man versucht nachträglich aufzuklären, immer noch irgendwelche Grauzonen gibt.

    Remme: Es gab auch Morde nach dem 18. Oktober 1977, aber war dieser Tag ein Schlusspunkt hinter die RAF?

    Aust: Nein, es war eben leider nicht ein Schlusspunkt hinter die RAF. Es war ein Schlusspunkt für die erste Generation, aber das was dann die zweite oder dritte Generation, oder wie auch immer man das zählen mag, angestellt haben, das war ja keinesfalls schöner. Es gab dann anonyme Erschießungen sozusagen aus dem Hinterhalt. Es gab Bombenanschläge. Also, es nahm eben leider kein Ende, so muss man sagen, und ich glaube, dass der Staat sich das zum Teil selbst eingebrockt hat in der Art, wie er mit den Gefangenen umgegangen ist. Ich meine das nicht in dem Sinne, dass er nun tatsächlich zum Teil zu Foltermaßnahmen oder dergleichen gegriffen hat. Das ist zum Teil wirklich Propaganda der Gruppe selbst, der Anwälte und der Sympathisanten gewesen. Ich glaube, dass man ihnen die Bedeutung erst gegeben hat, indem man verzweifelt versucht hat, aus dem Prozess, der ja, wenn Sie so wollen, ein politischer Prozess war, einen normalen Strafgerichtsprozess zu machen. Dadurch hat man eben erst den wirklich politischen Prozess draus gemacht. Man hat Gesetze verändert. Man hat die Gefangenen, jedenfalls anfangs, nicht zu Worte kommen lassen. Wie gesagt, man hat den Hochsicherheitstrakt in Stammheim gebaut. Man hat ihnen einfach eine überdimensionierte Bedeutung gegeben.

    Remme: Es war ja eine hysterische Stimmung, Mitte Oktober. Es war Höhepunkt einer tragischen Eskalation. Sehen Sie denn in diesem Ablauf einen Punkt im Vorfeld, wo die Chance des Staates zur Deeskalation verpasst wurde?

    Aust: Ja, das glaube ich schon. Nun muss man natürlich sagen: Es ist nicht ungewöhnlich, wenn es eine hysterische Situation gibt, wenn derartige Ereignisse passieren. Die Entführung von Hanns Martin Schleyer, die Erschießung von seinem Fahrer und von ihn begleitenden Polizisten – das ist natürlich eine so grausige Geschichte, dass es kein Wunder ist, dass das die Bevölkerung und die Politik und die Öffentlichkeit in Aufruhr versetzt. Ich glaube aber, man hat einen ganz groben Fehler gemacht, indem man nicht auf der richtigen Ebene mit den Gefangenen in Stammheim verhandelt hat. Ich glaube, dass die Kontaktsperre, die man verfügt hat, sodass nicht einmal Anwälte sie besuchen konnten, ein ganz grober Fehler gewesen ist. Ich glaube, man hätte mit den Gefangenen in Stammheim verhandeln müssen, und man hätte mit ihnen reden müssen. Ich glaube jedenfalls, dass man eine Chance gehabt hätte, die dazu zu kriegen, an die Entführer von Hanns Martin Schleyer zu appellieren oder nach der Flugzeugentführung das zu sagen, was sie immer gesagt hatten, nämlich dass sie nicht von einer Flugzeugentführung von ganz normalen Flugpassagieren befreit werden wollten. Warum hat man nicht mit den Gefangenen in Stammheim verhandelt, warum nicht Mittelsmänner reingeschickt, zum Beispiel Anwälte, zum Beispiel Otto Schily? Warum hat man das nicht getan? Das ist eine Frage, die ich mir damals gestellt habe und die mir bis heute niemand richtig beantworten kann.

    Remme: Herr Aust, diese 44 Tage im Herbst 77 sind von vielen Seiten beleuchtet worden. Eine Seite bleibt unterbelichtet, die Perspektive des Opfers Hanns Martin Schleyer. Es gibt angeblich Protokolle seiner Haft. Sie sind verschwunden. Einer seiner Bewacher, Peter-Jürgen Boock, hat ein Buch geschrieben, ein Anliegen, das Opfer zu Wort kommen zu lassen. Ein zynischer Versuch?

    Aust: Ich glaube nicht. Ich glaube, dass Peter-Jürgen Boock – ich kenne ihn auch ziemlich gut – zu den ganz wenigen gehört, die zu dieser Gruppe, speziell zur zweiten Generation, gehört haben, die an der Entführung von Hanns Martin Schleyer beteiligt waren, die die Verantwortung dafür nicht nur juristisch auf sich genommen haben – er hat ja sehr viele Jahre im Gefängnis gesessen -, sondern der hat daran gearbeitet, der hat es für sich aufgearbeitet. Wenn Sie mit dem reden, dann haben Sie wirklich das Gefühl, dass der etwas daraus gelernt hat, dass er sich immer noch schämt, muss man sagen, und dass er sich wirklich damit auseinandergesetzt hat. Wenn er jetzt den Versuch macht zu rekonstruieren, was man mit Hanns Martin Schleyer in der Haft geredet hat – also, ich sage jetzt mal Haft, denn das ist seine Diktion -, wie er sich selbst an den Gesprächen, an den Überlegungen zum Austausch beteiligt hat, was er wie versucht hat, um mit seinen Entführern ins Gespräch zu kommen, all dieses versucht ja Peter-Jürgen Boock zu rekonstruieren, dann muss ich sagen: Es ist ein sehr ehrenswerter Versuch von jemandem, seine eigene Vergangenheit zu bewältigen.

    Remme: War dieser deutsche Herbst etwas Einmaliges, Herr Aust, oder könnte sich solch eine Herausforderung an den deutschen Staat wiederholen?

    Aust: Wie wir am 11. September des vergangenen Jahres gesehen haben, war das nicht eine einmalige Angelegenheit. Der Terrorismus hält uns heute genau so in Atem wie damals, vielleicht noch gravierender, weil aus dem, was sich damals in Deutschland abspielte, ja über einen sehr langen Zeitraum passierte. Ich meine, die RAF hat es, glaube ich, doppelt so lange gegeben wie das Dritte Reich. Das muss man sich mal von den Zeitabläufen vorstellen - ich meine, die gesamte Geschichte der RAF. Und wenn Sie das sehen, was die Wohngemeinschaft aus Hamburg-Altona, Atta und Co, im Bezug auf das Attentat auf das World Trade Center in der Welt bewegt haben, was sie angerichtet haben, wie viele Leute sie umgebracht haben, wie das auch heute noch zurückschlägt auf die gesamte Weltpolitik etwas mehr als ein Jahr danach – Sie müssen den drohenden Irak-Krieg im Zusammenhang sehen -, dann ist das nichts Ungewöhnliches, und ich würde behaupten, dass die Motive und Vorgehensweisen der RAF vor 25 Jahren im Prinzip nicht so viel anders waren als das, was wir im letzten Jahr beim World Trade Center erlebt haben.

    Remme: Stefan Aust, Chefredakteur des Spiegels. Herr Aust, ich bedanke mich für das Gespräch.

    Link: Interview als RealAudio