Man wählte einen Vorsitzenden, verteilte Aufgaben, ging auseinander. Die Weltpresse nahm diesen 17. November 1993, die Konstituierung des Strafgerichtshofs für das frühere Jugoslawien, nicht einmal zur Kenntnis.
Mit nur zwei juristischen Mitarbeitern sollten die neun Richter und zwei Richterinnen aus allen fünf Erdteilen in Den Haag nach dem Willen des UNO-Sicherheitsrates die vielen Verbrechen verfolgen, die gleichzeitig im auseinanderfallenden Jugoslawien begangen wurden – in einem Krieg, in dem die Vertreibung der Zivilbevölkerung keine Nebenwirkung, sondern das eigentliche Ziel war.
Der neue Gerichtshof hatte kein Budget und keine Prozessordnung. Die UNO-Diplomaten hatten sich zwar auf einen Ankläger geeinigt, eine Art internationalen Staatsanwalt. Der aber, ein Venezolaner, wollte sein Amt erst in drei Monaten antreten - und kam dann nie.
Eine günstige internationale Lage
Dabei wartete ein historischer Auftrag auf die Richter. Bisher hatte die internationale Gemeinschaft nach dem Zweiten Weltkrieg nur ein einziges Mal Massenmörder als Verbrecher behandelt und nicht als große, höchstens noch umstrittene Staatsmänner: in den Tribunalen von Nürnberg und Tokio.
Der Südafrikaner Richard Goldstone, der erste tatsächliche Ankläger von Den Haag: "Dann war es der Kalte Krieg, der die Idee eines internationalen Strafgerichts für beinahe ein halbes Jahrhundert auf Eis legte."
Erst nach dem Fall der Mauer war an eine internationale Strafjustiz wieder zu denken.
Schon der Idee und erst recht den ersten Gehversuchen des Tribunals schlug weltweit Skepsis entgegen. Konnten Juristen aus Nigeria, Malaysia oder Costa Rica über ein komplexes Kriegsgeschehen in Europa urteilen? Und wer würde ihnen die Angeklagten zuführen? Die elf Richter arbeiteten unterdessen mit Hochdruck.
Ein Jahr dauerte es, bis der endlich eingetroffene Ankläger die erste Anklage fertig hatte. Aber der bosnisch-serbische Lagerkommandant, um den es ging, war, wie fast alle anderen Delinquenten, für das Gericht nicht greifbar. Goldstone gab nach zwei Jahren auf:
"Es ist eine große Enttäuschung und eine Frustration, dass von siebzig Angeklagten nur sieben in Den Haag sind – einer vor Gericht, einer in Erwartung des Urteils und fünf in U-Haft."
Eine beharrliche Chefanklägerin schafft den Durchbruch
Der Durchbruch kam erst nach weiteren drei Jahren mit der Chefanklägerin Carla del Ponte. Die resolute Staatsanwältin aus dem Tessin bearbeitete unablässig die Regierungen im Westen und in der Region, die Haftbefehle zu vollstrecken, Angeklagte ausfindig zu machen, Material zu sammeln. Mächtige, die nur halbherzig kooperierten, stellte sie öffentlich an den Pranger. Politische Rücksichten waren ihre Sache nicht.
"Ich habe keine politische Rolle. Ich brauche die Politik, um meine Arbeit machen zu können. Leider."
Als Gerüchte aufkamen, kroatische Kriegsverbrecher hielten sich in Klöstern versteckt, legte sich Del Ponte sogar mit dem Papst an. Ihre Bibel war das Statut des Tribunals, das in seinem Artikel 27 alle Staaten zur Kooperation verpflichtete.
"Niemand schert sich um diesen Artikel. Deshalb brauchen wir politischen Druck!"
Auch Staatschef wird angeklagt
1999, noch während des Krieges im Kosovo, erhob die internationale Behörde Anklage gegen einen amtierenden Staatschef, den jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milošević. Keine zwei Jahre später stand der inzwischen Gestürzte tatsächlich vor Gericht und musste sich wegen Völkermordes verantworten. Dass sein Land die Institution im fernen Den Haag nicht anerkannt hatte, half ihm nicht.
"Ich betrachte dieses Tribunal als unrechtmäßig und die Anklagen ebenfalls. Es ist illegal, denn es wurde nicht von der UNO-Vollversammlung eingerichtet."
Milošević, der fünf Jahre danach in der Haft starb, war der berühmteste und höchstrangige unter den 161 Haager Angeklagten.
Ende vorigen Jahres schloss das Tribunal seine Pforten. Die Einigkeit im Sicherheitsrat, die erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg wieder eine Strafverfolgung von Kriegsverbrechern möglich machte, ist längst wieder dahin.
Zum Krieg in Syrien ist Ähnliches nicht einmal mehr vage in Aussicht. Wer Tausenden das Leben nimmt, hat heute wieder gute Aussicht, seiner Strafe zu entgehen.