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Vor 25 Jahren
"Es war ein irres Gefühl"

Am 9. Oktober 1989 fanden die bis dahin größten Montagsdemonstrationen gegen das SED-Regime in Leipzig statt. Mit dabei war Regina Schild, heute Leiterin der Stasi-Unterlagen-Behörde in der Außenstelle Leipzig. Sie nahm teil, sagte sie im Deutschlandfunk, weil für sie feststand, dass das Leben so in der damaligen DDR nicht mehr weitergehen konnte.

Regina Schild im Gespräch mit Thielko Grieß |
    Auf Transparenten fordern Teilnehmer des friedlichen Demonstrationszuges am 10.10.1989 durch die Leipziger Innenstadt immer wieder "Freiheit" - hier auf einem Banner mit drei Ausrufungszeichen zu lesen.
    Auf Transparenten fordern Teilnehmer des friedlichen Demonstrationszuges durch die Leipziger Innenstadt immer wieder "Freiheit". (picture alliance / Lehtikuva Oy)
    Regina Schild war klar, dass sie zu den Kundgebungen gehen musste. Freunde hätten einen Ausreiseantrag gestellt, man hätte das Gefühl gehabt, immer mehr verabschieden sich und gehen. Irgendwie dachte sie: "So geht’s nicht mehr, du kriegst keine Luft mehr in dieser Stadt, in diesem Land. Irgendwas musste passieren."
    Am 9. Oktober 1989 fuhr sie mit der Straßenbahn in das Zentrum von Leipzig und fand Platz in der Reformierten Kirche. Im Anschluss lief sie zum damaligen Karl-Marx-Platz, der voll von Menschen war. "Wir dachten: Wir haben es geschafft", erzählt sie. Sie seien nach Hause und hätten gesagt: "Wir müssen das nächste Mal wiederkommen und wir gucken, dass noch mehr mitkommen. Wir dürfen nicht aufhören." Es sei ein unbeschreibliches Glücksgefühl gewesen. Für Regina Schild steht fest: Es sind die vielen Menschen gewesen, die auf die Straße gegangen sind, die was bewirkt haben. Ohne die wäre nichts gegangen.
    Die Leiterin der Leipziger Außenstelle der Gauck-Behörde Regina Schild zeigt am 23.11.1993 zwei Akten eines Informellen Mitarbeiters der Stasi.
    Regina Schild im November 1993 ( picture-alliance/ ZB/ Wolfgang Kluge )
    Mit dem Lichtfest, das am Abend in Leipzig gefeiert wird, gedenkt die Stadt dieses Tages vor 25 Jahren. Regina Schild wehrt sich gegen die Kritik, es sei eine Verkitschung, wenn alle mit Kerzen durch die Stadt zögen, das würde die Angst und die Stimmung damals nicht wiedergeben. Mit dem Fest wollten die Organisatoren vor allem die Generation erreichen, die diese Zeit nicht erlebt habe, erklärt Schild. Man wolle zeigen: Was ist Demokratie und was hat die DDR-Diktatur bedeutet? Mit diesem Format werde die Jugend erreicht.

    Das Interview mit Regina Schild in voller Länge:
    Thielko Grieß: Allen in Leipzig war klar: Dieser Abend bringt eine Entscheidung, zumindest darüber, ob die nächsten Wochen in der DDR gewalttätig werden und blutig oder nicht. Der 9. Oktober 1989 war ein Montag, ein schon eingeübter Wochentag der Friedensgebete und der Treffen Oppositioneller. Die gab es nicht nur in Leipzig, auch in anderen Städten der DDR. Aber heute Abend vor 25 Jahren zogen ungefähr 70.000 Menschen in fahlem orangenem Licht der Straßenlaternen über die breiten Straßen des Innenstadtrings, sehr wohl und gut beobachtet von Polizei, Militär und Stasi, die bereit standen, bewaffnet, Blutkonserven waren nach Leipzig gebracht worden für mögliche Verletzte, selbst an Leichensäcke hatte der Staatsapparat gedacht. Schlägt also dieser Abend in Gewalt um oder nicht? Es kursierte ein oppositionelles Flugblatt mit dem Aufruf zur Gewaltlosigkeit, und dazu hatten sechs prominente Leipziger Ähnliches verfasst, und das war über Lautsprecher in der ganzen Stadt zu hören, verlesen vom damaligen Gewandhaus-Kapellmeister Kurt Masur.
    O-Ton Kurt Masur: "Wir alle brauchen einen freien Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus in unserem Land. Deshalb versprechen die Genannten heute allen Bürgern, ihre ganze Kraft und Autorität dafür einzusetzen, dass dieser Dialog nicht nur im Bezirk Leipzig, sondern auch mit unserer Regierung geführt wird. Wir bitten Sie dringend um Besonnenheit, damit der friedliche Dialog möglich wird. Es sprach Kurt Masur."
    Programmhinweis: Festakt in Leipzig
    Der Festakt in Anwesenheit des Bundespräsidenten Joachim Gauck wird im regulären Deutschlandfunk-Programm von 11.00 bis ca. 13.00 Uhr live übertragen.
    Der "Marktplatz" ab 10.10 Uhr präsentiert sich in einer kürzeren Ausgabe - die "Informationen am Mittag" beginnen entsprechend später.
    Grieß: ... am 9. Oktober 1989. - Eine der 70.000 Demonstrantinnen und Demonstranten war Regina Schild, die heute die Außenstelle Leipzig der Stasi-Unterlagenbehörde leitet. Regina Schild haben wir vor dieser Sendung in Leipzig erreicht, ihre Heimatstadt. Meine erste Frage an Sie war eine Bitte, sich in diesen Tag vor 25 Jahren hineinzuversetzen, vor allem in den Morgen dieses Tages. Was war das, Frau Schild, für ein Tag, der in diesen Stunden begonnen hat?
    Regina Schild: Für mich war der Tag angespannt. Ich habe halbtags gearbeitet, bin bis mittags zur Arbeit gegangen. Meine drei Kinder sind in den Kindergarten gegangen und ich hatte mich verabredet mit meiner Freundin - relativ frühzeitig, weil wir an diesem Tag in eine Kirche reinkommen wollten. Wir hatten eigentlich vor, in die Nikolaikirche zu kommen.
    Mein Mann rief noch Mittags an, so erinnere ich mich, und hat mir mitgeteilt, ich soll doch diesmal nicht gehen, weil er gehört hat von einem Freund, dass die OP's vorbereitet werden, und hat mir gesagt, dass sie wahrscheinlich doch schießen. Aber ich dachte, wir haben uns verabredet, und irgendwie war der innere Drang da, dass ich doch gehen musste. - Wir haben uns dann getroffen, ...
    Grieß: Wenn ich kurz einhaken darf, fragen darf, Frau Schild: Wie haben Sie denn Ihrem Mann gegenüber begründet, dass Sie trotzdem, trotz dieser wohl auch gefährlichen Situation zur Demonstration gehen möchten und wollen?
    Er hat mich zur Vorsicht aufgerufen
    Schild: Ja, er hat nichts weiter dagegen gesagt. Er hat mich nur zur Vorsicht aufgerufen und ich weiß gar nicht, wie ich es begründet habe. Das kann ich heute nicht mehr sagen. Für mich stand fest, ich muss gehen. Irgendwie war das wie ein innerer Zwang. Ich muss gehen an dem Tag und ich war ja auch meiner Freundin verpflichtet. Wir wollten uns ja treffen.
    Grieß: Was wollten Sie erreichen mit Ihrer Teilnahme an dieser Demonstration?
    Schild: Ich war nicht jemand in der vordersten Front. Ich wollte einfach, dass eine Person mehr gezählt wird, die zeigt, so geht's nicht weiter, und für mich ging's so einfach nicht weiter.
    Grieß: Was genau ging für Sie so nicht weiter?
    Schild: Die Stadt fiel zusammen. Die Häuser fielen ein. Für meine Kinder - die hatte ich nicht oder wir hatten sie nicht in die Pioniere gegeben. Permanent mussten wir uns rechtfertigen dafür. Auf Arbeit war es so, dass wir ein Sicherheitsbereich geworden waren, und wir sollten jeglichen Westkontakt melden. Das war für mich wie ein Verrat, denn ich habe das nicht gemacht. Ich blieb dann von 100 Leuten als einzige übrig, die das nicht unterschrieben hat. Das waren alles so Sachen.
    Freunde hatten einen Ausreiseantrag gestellt. Man hatte das Gefühl, immer mehr verabschieden sich und gehen, und irgendwie dachte ich, so geht's nicht mehr, du kriegst keine Luft mehr in dieser Stadt, in diesem Land, und irgendwas musste passieren.
    Grieß: Als was haben Sie gearbeitet?
    Schild: Ich habe als Sachbearbeiterin im Nachrichtenelektronik Leipzig gearbeitet in der EDV.
    Es war eine gespenstische Stille
    Grieß: Dann sind Sie am Nachmittag mit der Straßenbahn oder wie auch immer ins Leipziger Zentrum gefahren. Haben Sie den Platz bekommen in der Nikolaikirche, den Sie haben wollten?
    Schild: Leider nicht. Wir sind wirklich reingefahren. Ich erinnere mich, dass es wirklich eine gespenstische Stille war. Es war eine sehr angespannte Atmosphäre. Und ich erinnere mich so, dass wirklich nur diese LKW, Ellos an der Straßenbahn vorbeigefahren sind, wo man gesehen hat, dass da bewaffnete Kräfte drinsaßen in den LKW, und wir haben uns nur zugeraunt, heute passiert hoffentlich nichts.
    Dann sind wir an die Nikolaikirche gekommen, die aber schon voll war. Die war überfüllt. Dann sind wir durch die Innenstadt gelaufen und sind an der Thomaskirche vorbei, da sind wir auch nicht reingekommen, und sind zur reformierten Kirche gelaufen. Die ist am Brühl und dort haben wir schon von Weitem gesehen, dass da noch Einlass war. Die Türen waren noch offen, die Menschen gingen noch rein, und dort sind wir reingekommen.
    Grieß: Die reformierte Kirche, das ist ja die Kirche, in der oben im Turm die Fernsehbilder letztlich gemacht worden sind, die alle kennen von diesem Abend, die dann gemacht worden sind vom Ring. Sie haben dann teilgenommen dort an einem Friedensgebet. Und danach? Wie ist es weitergegangen? Sind Sie auf die Straße gegangen, haben sich dem Zug angeschlossen und haben nervös um sich geschaut, ob es vielleicht doch irgendwo Gewalt geben könnte?
    Schild: Danach sind wir raus. Es hieß, die Kirchen bleiben offen. So erinnere ich mich. Ihr findet Schutz hier, wir hoffen und beten, dass es friedlich bleibt. Wir haben uns auch gesagt, man muss auf den Nachbarn gucken, dass ja nicht jemand aggressiv wird, einen Stein nimmt oder so, dass die nicht eine Chance haben zu sagen, wir müssen eingreifen.
    Dann sind wir rausgekommen und haben gesagt, was machen wir jetzt. Dann haben wir gesagt, wir laufen erst mal durch die Innenstadt zum damaligen Karl-Marx-Platz, der heute Augustusplatz heißt, und der war voll von Menschen. Das war einfach ein irres Gefühl. Da hat man wirklich - - Ich weiß noch, wie wir dann da in die Menschenmenge rein sind, und konnten es gar nicht fassen, dass so viele da waren, und haben gesagt, heute kann gar nichts passieren, und es ist ja auch so gewesen. Es ist nichts passiert, Gott sei Dank.
    Grieß: Dann sind Sie um den Ring gelaufen. Sie sind ja wahrscheinlich, auch Sie selbst, an der runden Ecke, an der damaligen Stasi-Zentrale in Leipzig vorbei gekommen. Lässt sich das in Worte fassen, was Sie damals gespürt haben?
    Schild: Für mich war es nur irgendwie, wir haben es geschafft. Dieser Tag war wie, heute ist es geschafft. Wir sind nach Hause und haben gesagt, wir müssen das nächste Mal wiederkommen, und wir gucken, dass noch mehr mitkommen, wir dürfen nicht aufhören. Irgendwie war das ein unbeschreibliches Glücksgefühl.
    Ohne die vielen Menschen wäre nichts gegangen
    Grieß: Frau Schild, sprechen wir darüber, wie heute darüber gedacht wird, über das, was passiert ist vor 25 Jahren. Ich würde gerne ein Zitat kurz einbringen. Das stammt von Helmut Kohl. Das kennen wir, dieses Zitat, seit dieser Woche, weil es im "Spiegel" stand, in der aktuellen Ausgabe. Er hat sich Jahre später dazu geäußert und er hat gesagt: "Es ist ganz falsch, so zu tun, als wäre da plötzlich der Heilige Geist über die Plätze in Leipzig gekommen und hat die Welt verändert", sondern vielmehr die ökonomische Situation in der Sowjetunion sei letztlich ausschlaggebend gewesen für den Zusammenbruch der DDR. Wie reagieren Sie als Demonstrantin darauf?
    Schild: Ich denke schon, dass es die vielen Menschen waren, die auf der Straße waren, dass die was bewirkt haben. Ohne die vielen Menschen wäre nichts gegangen. Natürlich auch nicht ohne diese Mutigen, die ganz vornean geschritten sind. Denen verdanken wir ganz besonders, dass sich die Veränderung ergeben hat.
    Grieß: Heute wird bei Ihnen in Leipzig gefeiert, den ganzen Tag über eigentlich. Es kommt der Bundespräsident und hält eine Rede. Das ist dann Mittags. Der Deutschlandfunk überträgt das auch. Und Abends gibt es das Lichterfest bei Ihnen in der Stadt. Da gibt es manche, die kritisieren diese Veranstaltung und sagen, das ist verkitscht, das stellt eine Art heimelige Atmosphäre her, wenn wir alle mit Kerzen über den Ring ziehen, die Angst und die Unsicherheit und die Nervosität von damals gibt es so nicht wieder. Was meinen Sie?
    Schild: Ja. Diese Situation von damals können sie ja auch nicht wiederherstellen. Wir haben in der Initiative "Tag der friedlichen Revolution" uns überlegt, wie kann man Jugend dafür begeistern, für diesen Tag und sich mit dieser Erinnerung zu beschäftigen, und wir wollten mehr erreichen. Wir wollten einfach auch die Generation erreichen, die einfach diese Zeit nicht erlebt hat, die in die Demokratie hineingewachsen ist. Wir wollten auch ihnen ein Stückchen zeigen, was ist Demokratie und was hat diese DDR-Diktatur bedeutet, und da mussten wir ein Format finden, was irgendwie die Jugend erreicht.
    Ja, man kann sich streiten: Ist das gut, ist das schlecht. Und es ist auch gut, dass es Leute gibt, die sagen, das finde ich nicht gut. Manche sagen, ist toll. Aber wir merken jetzt, wir erreichen sehr viele.
    Vielleicht darf ich noch sagen: An dem Tag gibt es keine Bockwurststände und Bierstände, sondern wir erinnern künstlerisch auch mit Bildern von damals und es gibt viele Gespräche wirklich über die damalige Zeit und viele Reflexionen in die heutige Zeit, und das ist ja gut, dass an dem 9. Oktober das passiert.
    Grieß: Regina Schild, 1989, vor 25 Jahren Demonstrantin in Leipzig und heute Leiterin der Stasi-Unterlagenbehörde in der Außenstelle Leipzig. Frau Schild, danke schön für Ihre Eindrücke, für die Schilderungen und Ihnen einen schönen Gedenktag heute in Leipzig. Danke.
    Schild: Danke schön.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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