9. Februar 1991. In Litauen, der bevölkerungsreichsten der drei baltischen Republiken, sind knapp 2,7 Millionen Wahlberechtigte aufgerufen, über die Zukunft ihres Landes zu entscheiden.
"Stimmen Sie Artikel 1 der geltenden litauischen Verfassung zu, wonach der litauische Staat eine unabhängige, demokratische Republik ist?"
Das Ergebnis ist ebenso eindeutig wie eindrucksvoll: 85 Prozent der Wahlberechtigten nehmen an der Abstimmung teil, gut 90 Prozent stimmen für die Unabhängigkeit.
"Mit der Volksabstimmung in Litauen hat die Regierung der Balten-Republik für ihren Weg der staatlichen Unabhängigkeit ein überzeugendes Mandat erhalten."
Für die Moskauer Zentralregierung ist das Referendum ungültig
Doch so klar das Mandat auch ist: Dass daraus schon bald reale staatliche Souveränität werden würde, kann an diesem Tag niemand ahnen. Für die Moskauer Zentralregierung ist das Referendum ungültig. Litauen ist Teil der Sowjetunion. Punkt. Doch Kazimira Prunskiene, bis Anfang 1991 Ministerpräsidentin Litauens, ist optimistisch:
"In dieser Situation sehe ich die Möglichkeit, das zu erreichen durch drei wichtige Momente. Durch unsere weitere feste Haltung bei Unabhängigkeit Position. Durch die … Konsolidierung demokratischer Kräfte in Russland und zwischen alle Staaten und Republiken, die haben gleiche Interessen. Sowie durch die Unterstützung von West."
Die litauische Unabhängigkeitsbewegung war ein Produkt der Perestroika. Im Sommer 1988 gründeten kommunistische und nichtkommunistische Intellektuelle in Vilnius die "Initiativgruppe Sajudis". Explizites Ziel: Die Unterstützung von Gorbatschows Glasnost-Politik. Innerhalb weniger Monate wurde aus der Forderung nach Demokratie die nach Wiederherstellung der staatlichen Unabhängigkeit. Im Februar 1990 führte der Musikprofessor Vytautas Landsbergis die nationale Bewegung "Sajudis" zum Sieg bei den Parlamentswahlen. Am 11. März verkündete er die Wiedereinsetzung der Litauischen Vorkriegsverfassung.
"124 sind dafür, dagegen niemand, und sechs haben sich der Stimme enthalten. Das Gesetz ist verabschiedet. Ich gratuliere dem Obersten Rat. Ich gratuliere Litauen."
Aus Sicht Litauens war damit die illegitime sowjetische Besatzung beendet.
Die Litauer hatten in Moskau auch Verbündete
Arvydas Anushauskas, Historiker und Zeitzeuge:
"Die Erwartungen der einfachen Leute waren anders, als die der Politiker. Die Politiker wussten, dass Gorbatschow im Westen sehr beliebt war, dass viele auf seine Reformen hofften, damit der Kalte Krieg beendet würde, dank Gorbatschow."
Seit Januar 1991 steuerte der Konflikt mit Moskau auf eine Entscheidung zu. Bei Zusammenstößen mit sowjetischen Truppen starben 14 Litauer und ein sowjetischer Offizier, Hunderte Zivilisten wurden verletzt. Doch die Litauer hatten in Moskau nicht nur mächtige Gegner, sondern auch Verbündete. Kurz nach dem sogenannten Vilniusser Blutsonntag traf der russische Parlamentspräsident Boris Jelzin in Tallinn seine drei baltischen Kollegen:
"In ihrer gemeinsamen Erklärung verurteilen die vier Parlamentspräsidenten das Vorgehen der sowjetischen Führung gegen die baltischen Staaten als Bedrohung ihrer Souveränität und als Verletzung der Menschenrechte aller Bürger dieser Staaten ungeachtet ihrer Nationalität. Die vier Republiken erkennen gegenseitig ihre staatliche Souveränität an."
Damit wendete Jelzin sich frontal gegen Michail Gorbatschow. Doch noch hatte der in Moskau die Oberhand. Erst als Jelzin Ende August 1991 den Putsch gegen Gorbatschow niederschlägt und in Moskau de facto die Macht übernimmt, steht der Unabhängigkeit des Baltikums nichts mehr im Wege. Nachdem Moskau den Weg frei gemacht hat, traut sich auch der Westen.
"Deshalb wollen wir jetzt, da es möglich geworden ist, unsere Beziehungen zu Estland, Lettland und Litauen wieder aufnehmen."
Außenminister Genscher am 27. August 1991. Ein gutes halbes Jahr nach dem Referendum und 61 Jahre nach dem erzwungenen Beitritt zur Sowjetunion hat Litauen seine staatliche Unabhängigkeit zurückgewonnen.