Es ist drückend heiß in Palermo an diesem 19. Juli 1992, einem Sonntag. Der Oberstaatsanwalt Paolo Borsellino fährt am Nachmittag zu einem kurzen Besuch zu seiner Mutter, die unweit des Messegeländes im Westen der Stadt wohnt. Der 52-Jährige ist seit Jahren im Kampf gegen die Mafia im Einsatz und kann sich nur noch unter Begleitschutz bewegen. In einem Fernsehinterview wenige Tage vor diesem Sonntag antwortete er auf die Frage, ob er sich als ein "Überlebender" fühle:
"Guardi, io ricordo ciò … Ich muss daran denken, was mir ein Kollege mal gesagt hatte. Wir sollten, sagte er, uns klar darüber sein, dass wir Leichen sind, die noch laufen können."
Die Wagen der Eskorte halten vor der Hausnummer 21 der Via Mariano D’Amelio. Die Beamten sichern den Zugang zum Eingang und Borsellino steigt aus. Es ist 16.58 Uhr, als eine ungeheure Explosion die sonntägliche Stille zerreißt.
"Io sono arrivato un ora dopo quell’esplosione. Sembrava Beirut. … Ich bin etwa eine Stunde nach der Explosion eingetroffen, das sah dort aus wie Beirut."
Ein Augenzeuge berichtet: "Tutte le facciate dei palazzi ... Die Fassaden auf beiden Seiten der Straße waren aufgerissen, die Fensterrahmen hingen heraus oder waren weggesprengt, und aus den verbrannten Autos stieg noch Rauch. Zum Glück konnte man nicht so gut sehen, denn überall lagen Körperteile herum, die bei der Explosion durch die Luft geschleudert worden waren."
Maxiprozess gegen die Mafia mit 400 Angeklagten
Bei dem Anschlag sterben Paolo Borsellino und fünf Beamte seines Begleitschutzes, darunter eine Frau. Nur 57 Tage zuvor waren sein Freund, der Ermittlungsrichter Giovanni Falcone, dessen Ehefrau und alle Mitglieder des Begleitschutzes bei einem Mordanschlag ums Leben gekommen. Rita Borsellino, die Schwester Paolo Borsellinos und bis vor zwei Jahren Europaabgeordnete der demokratischen Partei, erinnert sich an die Reaktion ihres Bruders:
"Il dolore ha il sopravvento … Der Schmerz war riesig, aber der Mord an Falcone zeigte Paolo vor allem, dass die Auseinandersetzung mit der Mafia eine neue Stufe erreicht hatte. Und ihm wurde auch klar: Der nächste bin ich. Und wenige Tage vor dem Attentat sagte er etwas Schreckliches: ‚Ich weiß, der Sprengstoff für mich ist angekommen.‘"
Falcone und Borsellino hatten den ersten sogenannten Maxiprozess gegen über 400 Mitglieder der Cosa Nostra vorbereitet, dessen harte Urteile im Januar 1992 schließlich endgültig bestätigt worden waren. Die Mafia antwortete mit einer Serie blutiger Anschläge. Borsellino vermutete, dass es nach Falcones Tod zu einer Art Verhandlung zwischen Vertretern der Institutionen und der Cosa Nostra gekommen war, um die Anschlagsserie zu stoppen. Verhandlungen, die Borsellino strikt ablehnte.
Olivenbaum im Bombenkrater
"Wenn man mich ermordet", so zitiert Rita Borsellino ihren Bruder, "würden Mafiosi die Täter sein - doch die Auftraggeber wären andere". Mögliche Hinweise dazu waren in einem roten Notizbuch Borsellinos vermerkt, das Augenzeugen noch nach dem Bombenattentat in der Via D’Amelio zusammen mit einer Aktentasche gesehen haben wollen. Doch das Notizbuch verschwand und wurde nie mehr gefunden.
"E’ stata accertata che la trattaviva è stata ... Es ist inzwischen erwiesen, dass es eine Art Verhandlung gegeben hat. Jetzt geht es um die Frage, wer genau hat mit wem in wessen Auftrag gesprochen. Wir wollen den Grund wissen, warum Teile der Institutionen, Personen des Staates, an Verhandlungen beteiligt waren."
In den Bombenkrater, den der Sprengstoff vor dem Hauseingang der Via D’Amelio 21 gerissen hatte, ließ Rita Borsellino einen Olivenbaum aus Israel pflanzen, der ihr geschenkt worden war. Auf einer Gedenktafel stehen auch die Namen der Beamten des Begleitschutzes, die damals ums Leben kamen. Sie starben im Kampf gegen die sizilianische Mafia, die heute, vor allem durch ein neues Bewusstsein in der Bevölkerung, nicht mehr eine so herausragende Rolle spielt, wie noch vor 25 Jahren.