"Ich weiß das genaue Datum nicht mehr, aber ich erinnere mich an den Tag, als ein Armeetransporter in unsere Siedlung kam. Nun, eigentlich war es ein Panzer. Der kam in unsere Siedlung und fing an, einige Geschäfte zu beschießen. Ich erinnere mich an das Geräusch von zerbrechendem Glas."
Noch hofften die Eltern, sie könnten ihrer kleinen Tochter den Anblick des Geschehens ersparen und dichteten die Fenster ab. Vergebens; der Krieg ließ sich nicht draußen halten.
"Die Rollläden in einem anderen Teil der Wohnung waren aber nicht ganz heruntergelassen, und ich weiß noch, wie ich in unserem kleinen Zimmer auf dem Boden gelegen und gesehen habe, wie der Panzer wieder wegfährt. Diese Szene bedeutete in meinem Gedächtnis den Beginn des Krieges."
Schutzlos ausgeliefert
Die heute 32-jährige Aida-Mia, die hier vom Kriegsbeginn in Bosnien-Herzegowina am 5. April 1992 erzählt, lebte und lebt noch heute mit ihrer Familie in der umkämpften Hauptstadt Sarajevo. Dreieinhalb Jahre dauerte der Bürgerkrieg zwischen den bosnischen Muslimen, die sich heute Bosniaken nennen, den Serben und den Kroaten; etwa 105.000 Menschen kostete er das Leben, unter ihnen 3.372 Kinder.
Die Eltern können mich nicht schützen: Das war die Grunderfahrung der Kriegskinder.
"Eine schmerzhafte Erinnerung, von der ich das Bild noch ganz genau vor Augen habe, das ist ein Besuch im Krankenhaus."
Wie die meisten Männer in Sarajevo war auch der Vater der heute 26-jährigen Amra Soldat in der bosnischen Armee und kämpfte in den Bergen über der Stadt gegen die Armee der bosnischen Serben. In dem Belagerungsring, der Sarajevo fast den ganzen Krieg über umschlossen hielt, wurde er von einer Granate schwer verwundet.
"Da lag er da, an etliche Schläuche angeschlossen, und er sah überhaupt nicht aus wie mein Papa. Angst habe ich gehabt vor dem Mann. Aber ich habe schon gesehen, wie erschüttert mein Vater davon war."
Erst jetzt, nach einem Vierteljahrhundert, wird die Erfahrung der jüngsten Opfer in Bosnien zu einem eigenen Thema. Im Januar hat Jasminko Halilovic, selbst Jahrgang 1988, in Sarajevo ein kleines Museum über Kriegskinder eröffnet. Lädierte Puppen sind hier zu besichtigen, Schulhefte, die mangels Papier bis auf den letzten Quadratmillimeter vollgemalt sind, mit Hingabe gebastelte Spielzeugautos – eine Welt des Mangels, des Überlebens unter widrigen Umständen.
Massenhafte Flucht und Vertreibung
Rund die Hälfte der Bosnier musste flüchten oder wurde vertrieben – auch die Familie der damals zwölfjährigen Vildana. Zu Fuß zog die Mutter ihre Kinder durch den Wald, über die Berge in die Kleinstadt Bugojno, wo man sicher war – diesmal vor den Kroaten. Vildana erinnert sich an die Flucht wie an ein Abenteuer ... ,
"Wie wir immer wieder in den Matsch gefallen sind. Ich weiß noch, wie wir in Bugojno angekommen sind, bei unseren Verwandten, wie wir uns begrüßt haben. Dann waren wir bei gleichaltrigen Freunden, die lebten allein. Allein, ohne Vater und Mutter!"
Wie alle Kriegskinder auf der Welt hat auch die damals siebenjährige Nejra, heute eine junge Frau, das Grauen um sie herum mit ihren Freundinnen nachgespielt und so zu bewältigen versucht.
"Gespielt haben wir mit Puppen und mit Barbies. Die waren noch von vor dem Krieg, und die hatten natürlich keine Arme und Beine mehr, wie das halt so ist. Und das hat uns auch an das erinnert, was da draußen geschah. Leute ohne Arme und Beine."
Wie gut die Bewältigung gelungen ist, darüber gibt die Erinnerung keine Auskunft. Schrecklicher als das, was das Gedächtnis preisgibt und was sich in Bilder und Ausstellungsstücke fassen lässt, ist das, was das Gedächtnis ausspart – wie der Einschlag einer Granate, der Nejras kleinen Bruder tötete.
"Alle fragen mich, woran ich mich erinnere, aber niemand, woran ich mich eben nicht erinnere. Ich erinnere mich überhaupt nicht an meinen Bruder. Tabula rasa. Ein paar Szenen ... Er war fünf Jahre jünger als ich, aber das Gesicht oder wie er größer wurde - das ist alles wie weggeblasen."
Ausbleibende Aufbaustimmung
Der Krieg ist gegenwärtig geblieben. Überall im Land sind noch immer zerschossene Häuser zu besichtigen. Nach dem Friedensschluss im November 1995 blieb Aufbaustimmung aus – bis heute. Arbeit gibt es kaum; Jahr für Jahr verlassen an die 50.000 junge Leute das Land.