"Evo nas, 11. jula 1995. Godine…"
Der hier spricht, am 11. Juli des Jahres 1995, ist Ratko Mladić, Oberbefehlshaber der bosnisch-serbischen Streitkräfte. Man feiere den Vorabend eines großen serbischen Feiertages, sagt er. Gerade eben ist seine Truppe in die bosnische Kleinstadt Srebrenica eingezogen. In den nächsten Tagen wird der General die Männer in der Stadt von den Frauen trennen, sie in die Wälder der Umgebung führen und sämtlich erschießen lassen – achttausend Menschen. Der Name der Stadt steht für das schlimmste Verbrechen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg.
Das Motiv für den Massenmord, ist auch nach einem Vierteljahrhundert nicht klar. "Rache" nennt es Mladić, der Mörder. Aber Rache wofür?
"Es ist keine Rache für irgendetwas, das dem Verbrechen unmittelbar vorausgegangen wäre. Es geht vielmehr um eine mythische Rache: Rache für ein konstruiertes Übel, das einem mythischen Feind zugeschrieben wird."
So erklärt es der bosnische Historiker Husnija Kamberović. Der mythische Feind, das sind die bosnischen Muslime – oder die "Türken", wie Mladić sie nennt; denn als "Türken" kann er sie mit dem ewigen Gegner gleichsetzen, dem Unterdrücker, von dem sich die Serben im 19. Jahrhundert befreit haben.
Einnahme der Stadt für Serben strategisch wichtig
Im Sommer 1995 ist das Ende des dreieinhalbjährigen Bürgerkriegs längst absehbar. Es geht nur noch um Abrundungen des Territoriums für die drei streitenden Volksgruppen: die Bosniaken oder Muslime, die Serben und die Kroaten. Im Osten des Landes, nahe der Grenze zu Serbien, sind drei Kleinstädte muslimisch geblieben, darunter Srebrenica. Damit war die Einnahme der Stadt für die serbische Seite strategisch wichtig, sagt die Münchner Balkan-Historikerin Marie-Janine Calic, die die Ereignisse damals vom Büro des UNO-Sonderbeauftragten in Zagreb aus verfolgte.
"Es ging ja gerade darum zu verhindern, dass in einer künftigen Friedensordnung noch muslimische Gebiete übrig blieben inmitten serbischen Territoriums."
Das erklärt die Einnahme der Stadt. Aber erklärt es auch den Massenmord? In anderen Fällen wurden die Muslime "nur" vertrieben, nicht ausgerottet wie hier. War es wirklich Strategie? Oder einfach Hass? Calic vermutet auch hier ein rationales Motiv: eine Drohung an die internationalen Friedensvermittler, die der serbischen Forderung nach Aufteilung des Landes nicht nachkommen wollten.
"Seht her, was passiert, wenn ihr euch unseren Forderungen widersetzt! Das hatte einen immens demoralisierenden Effekt."
Späteren Rechtfertigungen wie der, dass die Muslime von Srebrenica aus eine Offensive gegen den serbischen Belagerungsring um die Hauptstadt Sarajevo geplant hätten, mag Husnija Kamberović keinen Glauben schenken.
"Ich würde sagen, dass die bosnisch-muslimischen Truppen für die Armee der serbischen Republik Srpska überhaupt keine reale Gefahr darstellten."
Vielmehr sei der monströse Massenmord, gemessen an den Kriegszielen der serbischen Seite, wie sie sie schon drei Jahre vorher fixiert worden seien, nur logisch gewesen.
"Zwei der sechs Kriegsziele waren zum einen die Trennung der Serben von den anderen nationalen Gemeinschaften in Bosnien und zum anderen die Aufhebung der Grenze zu Serbien am Fluss Drina, ein Ziel, das die Eliminierung der Muslime voraussetzte."
Dauerhafte Spaltung der Gesellschaft Bosniens
Das letztere Ziel, nämlich die dauerhafte "ethnische Säuberung" Ostbosniens von den dort lebenden Muslimen, blieb unerreicht: Gerade unter dem Eindruck des Massakers setzten vor allem die USA mit militärischer Drohung durch, dass die größte der drei muslimischen Enklaven in der Region beim Friedensschluss eben nicht an die Serben fiel und dass mehrere Tausend vertriebene Muslime, vor allem Frauen, nach Srebrenica zurückkehren konnten. Das andere Ziel aber, die dauerhafte Spaltung der multinationalen Gesellschaft Bosniens, wurde gerade durch das Massaker erreicht.
"Es vertieft die Spaltung zwischen Bosniaken und Serben, und das in völliger Übereinstimmung mit dem strategischen Ziel, die nationalen Gemeinschaften definitiv voneinander zu trennen."
So grausam, so unerhört war das Verbrechen, dass eine Versöhnung nicht mehr möglich schien. Tatsächlich ist Bosnien ein gespaltenes Land geblieben. Wenn das das Kalkül war, dann ist die Rechnung aufgegangen.