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Vor 250 Jahren geboren
Rahel Varnhagen - Lichtgestalt der literarischen Salons

Menschen kennenlernen, diskutieren, nachdenken, analysieren – das waren Rahel Levin Varnhagens Leidenschaften. Sie lebte sie aus in ihren berühmten Salons und in Schriftwechseln mit hunderten Freunden und Bekannten. Ihre Briefe sind ein literarisches Werk ganz eigener Art.

Von Ulrike Rückert |
    'Die Einfalt schätz' ich hoch, der Gott hat Witz beschehrt;. Varnhagen von Ense, Rahel, geb. Levin, ab 1814 verehel. (Karl August) Varnhagen von Ense; beeinflusste mit ihrem Salon in Berlin das literarische Leben; Berlin 26.5.1771 - ebd. 7.3.1833. - Porträt
    „Die geistreichste Frau des Universums“ - so nannte Heinrich Heine die Literatin Rahel Varnhagen (1771 - 1833) (picture alliance | akg-images)
    "Und sterb ich – such alle meine Briefe – durch List etwa – von allen meinen Freunden und Bekannten zu bekommen und ordne sie mit Brinckmann. Es wird eine Original-Geschichte und poetisch."
    Das schrieb die 29-jährige Rahel Levin im Sommer 1800 an eine Freundin, bevor sie nach Paris reiste – überzeugt, dass ihre Briefe Literatur seien und wert, bewahrt und gelesen zu werden. Sie kehrte jedoch heil zurück, lebte 33 weitere Jahre und schrieb noch tausende Briefe, dazu Tagebücher und Gedankennotizen, die sie zur Kultfigur machten.

    Das Leben selbst wird zum Werk

    "Der Ruhm Rahels ist sehr schwer zu ergründen", so Nikolaus Gatter, Vorsitzender der Varnhagen-Gesellschaft. "Das Lebenswerk der Rahel Varnhagen ist zunächst mal einfach gar nicht ein Werk in diesem Sinne oder ein Buch, auf das man verweisen könnte."
    Nachkolorierte Zeichnung einer jungen Frau mit hochgesteckten Haaren und Ponny-Locken und  einer schlichten Kette auf dem De­kolle­té.
    Rahel Levin Varnhagen: "Schreiben ohne Werk"
    Rahel Levin Varnhagen war eine schillernde Persönlichkeit im Berlin des späten 18. Jahrhunderts. Sie unterhielt den tonangebenden Salon für Philosophen und Dichter. Alle schätzen ihre Klugheit und Beredtheit.
    Das Leben selbst wird zum Werk. Rahel Levin, später Varnhagen von Ense, wurde am 19. Mai 1771 in Berlin als Tochter eines jüdischen Kaufmanns und Bankiers geboren. Ihr Leben lang litt sie unter den Fesseln, die ihr als Frau angelegt waren, und der Ablehnung, die Juden entgegenschlug. Es war aber auch eine Zeit, in der sie ihre besondere Begabung entfalten und ihre größte Leidenschaft ausleben konnte: den Umgang und Austausch mit Menschen.

    "Was ist interessanter als ein neuer Mensch?"

    Die kulturell und intellektuell aufregendsten Orte in Berlin am Ende des 18. Jahrhunderts waren die Salons junger Jüdinnen. Hier trafen Dichter, Diplomaten und Offiziere, Schauspielerinnen und Gräfinnen zusammen, diskutierten über Literatur, Philosophie, Theater, Musik und freie Liebe und ignorierten die sonst unüberwindlichen Grenzen von Stand und Religion. Um 1800 überstrahlte Rahel Levins Salon alle anderen.
    "Ich liebe unendlich Gesellschaft und bin ganz überzeugt, daß ich dazu geboren, von der Natur bestimmt und ausgerüstet bin. Ich habe unendliche Gegenwart und Schnelligkeit des Geistes. Großen Sinn für Naturen und alle Verhältnisse, verstehe Scherz und Ernst und kein Gegenstand ist mir bis zur Unschicklichkeit fremd, der dort vorkommen kann. Ich bin bescheiden und gebe mich doch preis durch Sprechen und kann sehr lange schweigen und liebe alles Menschliche."

    "Worte, die wie Blitze durch die Luft fuhren"

    "Mit welcher Freiheit und Grazie wußte sie um sich her anzuregen, zu erhellen, zu erwärmen", so erinnerte sich ein Besucher an ihre Qualitäten als Gastgeberin. Und ihr Salon war auch eine Bühne, auf der sie sich selbst in Szene setzte.
    "Und was sagte sie Alles? Ich fühlte mich wie im Wirbel herumgedreht, und konnte nicht mehr unterscheiden, was in ihren wunderbaren, unerwarteten Äußerungen Witz, Tiefsinn, Gutdenken, Genie oder Sonderbarkeit und Grille war. Kolossale Sprüche hörte ich von ihr, wahre Inspirationen, oft in wenigen Worten, die wie Blitze durch die Luft fuhren und das innerste Herz trafen."
    Als Napoleon 1806 die Preußen besiegte und Berlin besetzte, zerstreuten sich die Gäste der Salons.
    "Bei meinem ‚Teetisch‘ sitze nur ich mit Wörterbüchern. So ist alles anders. Nie war ich so allein. Alles ist vorbei!"
    Doch Freundschaft und Briefeschreiben standen weiter hoch im Kurs. Rahel Levins Korrespondenzen rissen nicht ab. Briefe waren für sie eine andere Form des Salongesprächs, ein Austausch von Gedanken, Ideen und Klatsch, sprühend, von einem Thema zum anderen springend, wechselnd zwischen Einfühlung und scharfer Analyse, aber auch ein Medium der Selbsterforschung und Selbstreflexion.

    Ein wahrhaftiges Ergründen des Seins

    "Und ich glaube, das hat mich von Anfang an diesen Texten so fasziniert. Diese Genauigkeit, dieses sich nicht selbst was vorlügen, dieses Ergründen, wer man ist und wer die anderen sind und wie man sich begegnet. Und das in dieser Genauigkeit auch aufzuschreiben", sagt die Germanistin Barbara Hahn, die Briefe und Tagebücher von Rahel Levin neu herausgegeben hat.
    In den 1820er-Jahren führte Rahel auch wieder einen berühmten Salon, nun als Frau Varnhagen. 1814 hatte sie den 14 Jahre jüngeren Karl August Varnhagen von Ense geheiratet. Er half ihr nun auch, ihre Briefe zu sammeln und für Buchausgaben vorzubereiten.
    "Ich will noch leben, wenn man’s liest."
    Das schaffte sie nicht, erst nach ihrem Tod 1833 konnten Karl August Varnhagen und später seine Nichte die Bücher herausgeben. Sie sind es bis heute wert, gelesen zu werden.