Montag, 4. Februar 1985. Die "Deutsche Gesellschaft für Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen" verkündet, dass ihre Anlage im oberpfälzischen Wackersdorf errichtet werden soll, nicht in der Nähe Gorlebens. Der stabileren politischen Verhältnisse wegen.
"Die Bevölkerung und der Gemeinderat sind mehrheitlich bereit und erfreut über diese positive Entscheidung zugunsten des Standorts Wackersdorf."
SPD-Bürgermeister Josef Ebner gehört – wie der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß – zu den Befürwortern der Anlage. Seine Gemeinde, die in den 1970er-Jahren noch eine der reichsten Kommunen Bayerns gewesen war, hat durch das Ende des Kohlebergbaus gerade einen massiven Absturz erlebt:
"Wir hatten damals die höchste Arbeitslosigkeit in der damaligen Bundesrepublik. Wir haben uns mit dem Landkreis Passau immer abgewechselt, so 20, 22, 23 Prozent Arbeitslosigkeit", erinnert sich Hans Schuierer. Auch ihm, dem SPD-Landrat, erschienen die 3.600 Arbeitsplätze, die die Anlage bringen sollte, wie ein Geschenk. Dann entdeckte er bei einem der inoffiziellen Treffen mit dem Betreiber auf den Plänen einen 200 Meter hohen Kamin. Er fragte nach.
"Dann haben mir die – ich muss schon sagen – in deren Naivität, da gesagt, damit die radioaktiven Schadstoffe möglichst breit verteilt werden und die Bevölkerung vor Ort geschützt wird. Und da bin ich hellwach geworden und hab‘ gesagt, wenn also hier radioaktive Schadstoffe ausgestoßen werden sollen, dann ist die Sache für mich etwas völlig anderes."
Bayerischer Landtag entzieht SPD-Landrat die Befugnisse
Hans Schuierer schloss sich dem Widerstand an, der sich schon seit dem Auftauchen der ersten Gerüchte zu Beginn der 1980er-Jahre formiert hatte. Er weigerte sich, die Pläne für die Anlage zu unterschreiben.
"Das kann ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren, dass hier diese Anlage gebaut wird. Und daraufhin hat dann der bayerische Landtag, auf Antrag der bayerischen Staatsregierung, ein Gesetz verabschiedet und wurden mir auch damit die Befugnisse entzogen."
Am 11. Dezember 1985 beginnen die Bauarbeiten. Mit den ersten Rodungen errichten Protestierende Hüttendörfer im Taxöldener Forst, die von der Polizei geräumt werden. Am 31. März 1986, es ist Ostern, ziehen 100.000 meist friedliche Demonstranten zur Baustelle. Doch bei Ausschreitungen am sogenannten Chaoteneck setzt die Polizei Reizgas ein.
"'86, am 26. April, war Tschernobyl. Wir haben die ersten Tage es gar nicht gewusst, was da passiert ist. Und dann kamen aber schon die ersten Meldungen, dass Radioaktivität auch bei uns niedergegangen ist."
Der Protest verstärkt sich. Zu Pfingsten eskaliert die Situation: Es herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände. Auch in den nächsten Monaten kommt es immer wieder einmal zu schweren Auseinandersetzungen. Die Polizei greift – auf Geheiß der Politik - hart durch. Doch meist bleibt der Widerstand friedlich: Die Menschen treffen sich regelmäßig zu Sonntagsspaziergängen und Andachten im Taxöldener Forst.
"Herr, allein auf uns gestellt, neigen wir dazu, Probleme mit Gewalt zu lösen - stärke unseren Willen zur Gewaltfreiheit ..."
"Der Kleine ist die Masse – wenn die zusammenhalten, kann nichts passieren ..."
Die Masse siegt
Die Masse siegt. Am 31. Mai 1989 verkündet die "Deutsche Gesellschaft für Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen" den Baustopp. Hans Schuierer: "Die Philosophie, dass die Polizei mit den Demonstranten nicht mehr fertig werden darf, ist aufgegangen."
Die Industrie einigte sich in geheimen Verhandlungen mit dem damaligen französischen Atomkonzern Cogema: Die Brennelemente sollten nun in La Hague aufbereitet werden. Hans Schuierer vermutet, dass die Unternehmen auch eingesehen hätten, dass sich die Anlage in Wackersdorf unter solchen Verhältnissen nicht hätte betreiben lassen:
"Wir haben unseren Sieg gefeiert am Bauzaun. Das war natürlich ein großes Freudenfest."
Am 6. Juni 1989 unterzeichnen der deutsche Umweltminister Klaus Töpfer und der französische Industrieminister Roger Fauroux das Abkommen, das das endgültige Aus für Wackersdorf bedeutet. Heute gehört Wackersdorf wieder zu den reichen Gemeinden Bayerns – wegen der Ausgleichszahlungen für die entgangene WAA und des Industrieparks, der stattdessen aufgezogen wurde. Doch die Proteste haben auch Opfer gefordert: zwei Demonstranten und ein Polizist verloren dabei ihr Leben.