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Vor 30 Jahren: Der "Blutsonntag von Vilnius"
Als Gorbatschow nach Litauen griff

Litauen war die erste Sowjetrepublik, die sich für unabhängig erklärte. Um das rückgängig zu machen, ließ der sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow am 13. Januar 1991 Spezialeinheiten Vilnius überfallen. Mit so viel Gegenwehr hatte er nicht gerechnet.

Von Doris Liebermann |
    Etwa ein Dutzend Demonstranten in Straßenkleidung steht am 13. Januar 1991 in den Straßen von Vilnius einem Panzer der Sowjetarmee gegenüber
    Vilnius am 13. Januar 1991: Litauische Demonstranten stellen sich einem sowjetischen Panzer in den Weg (imago images / Belga)
    "Wilna heute Nacht. Sowjetische Kampfpanzer und Fallschirmjäger rücken gegen das Fernsehzentrum fünf Kilometer von der Stadtmitte entfernt vor. Es ist von Litauern umstellt, die es schützen sollen. Dann gegen null Uhr 30 fallen die ersten Schüsse. Augenzeugen berichten, dass die Panzer Barrikaden niederwalzten und auch Menschen überrollten. Über die Stadt wurde eine Ausgangssperre verhängt."
    Die Nachrichten an diesem 13. Januar 1991 überschlugen sich. Nicht nur das Rundfunk- und Fernsehgebäude, auch der einige Kilometer entfernte Sendemast wurde von sowjetischen Spezialeinheiten besetzt.
    14 Menschen kamen dabei ums Leben, mindestens 700 Menschen wurden verletzt, häufig durch Schläge mit Gewehrkolben auf den Kopf oder durch Schüsse in die Beine. Bevor fast alle Telefonleitungen ins Ausland gekappt wurden, ließ Litauens Staatsoberhaupt Vytautas Landsbergis französischen Journalisten einen verzweifelten Hilferuf zukommen:
    "Das ist ein regelrechter Krieg, die Sowjetunion gegen Litauen. Sie schießen auf unser Volk. Wir können keinen wirklichen Widerstand leisten, wir haben nur 20 Gewehre. Das ist alles. Die Sowjets haben hundert Panzer und tausende Fallschirmjäger."

    Stalin hatte Litauen der Sowjetunion einverleibt

    "Litauen, Litauen", rufen die Demonstranten, deren Staat ebenso wie Estland und Lettland 1940 von der Sowjetunion annektiert worden war. Die völkerrechtswidrige Besetzung wurde nach dem Krieg nicht rückgängig gemacht, im Gegenteil: Stalin ließ eine halbe Million Balten nach Sibirien deportieren, um deren Widerstand zu brechen.
    Im Zuge des Zerfalls der Sowjetunion Ende der 1980er-Jahre, erklärte sich Litauen am 11. März 1990 als erste Sowjetrepublik wieder zu einem selbstständigen Staat. Parlamentspräsident Vytautas Landsbergis verkündete damals im Obersten Rat Litauens unter Applaus die Wiedereinsetzung der Vorkriegsverfassung:
    "124 sind dafür, dagegen niemand, und sechs haben sich der Stimme enthalten. Das Gesetz ist verabschiedet. Ich gratuliere dem Obersten Rat. Ich gratuliere Litauen."
    Der litauische Staatspräsident Vytautas Landsbergis (M, mit Brille) während der Abstimmung im Parlament in Vilnius am 11. März 1990 über die Unabhängigkeit Litauens von der Sowjetunion.
    Februar 1991 - In einem Referendum stimmen die Litauer für ihre Unabhängigkeit
    Im Januar und Februar 1991 waren die Augen der Welt auf den Irak gerichtet. Im Osten Europas schritt gleichzeitig der Ver- und Zerfall der Sowjetunion unaufhaltsam voran. In Moskau, im Kaukasus und vor allem: im Baltikum.

    Gorbatschow läuft mit Ultimatum auf

    Moskau versuchte, mit Wirtschaftsblockaden, durch massive Geheimdienstaktivitäten und schließlich durch die Panzer der Spezialeinheiten, Litauens Unabhängigkeitserklärung rückgängig zu machen. Moskautreue Anhänger bildeten eine Regierung, um in Vilnius die Macht zu übernehmen. Michail Gorbatschow, der kurz zuvor mit dem Friedensnobelpreis geehrt worden war, stellte ein Ultimatum: bis zum 11. Januar 1991 sollte Litauen auf die Unabhängigkeit verzichten und die sowjetische Verfassung anerkennen.
    Das Ultimatum verstrich, es kam zu ersten Schüssen. Der ARD-Korrespondent Gerd Ruge war vor Ort:
    "Heute Morgen, lange vor Sonnenaufgang in Vilnius vor dem litauischen Parlament. Die ganze Nacht über sind Menschen gekommen, sie fürchten die Fallschirmjäger, die in Litauen eingetroffen sind aus Moskau, sie fürchten die russische Bewegung ‚Einheit‘, die das Parlament stürzen möchte."
    Zehntausende Menschen bauten Barrikaden und schützten das Parlament mit ihren bloßen Körpern vor den sowjetischen Panzern. Die Litauer hatten in Moskau aber auch Verbündete. Boris Jelzin, damals Parlamentspräsident der russischen Sowjetrepublik, stellte sich gegen Gorbatschow und traf in der estnischen Hauptstadt Tallin seine drei baltischen Kollegen.

    Widerstand gegen Gorbatschow

    In ihrer gemeinsamen Erklärung verurteilen die vier Parlamentspräsidenten das Vorgehen der sowjetischen Führung gegen die baltischen Staaten als Bedrohung ihrer Souveränität und als Verletzung der Menschenrechte aller Bürger dieser Staaten ungeachtet ihrer Nationalität.
    Eine wehende Fahne der Sowjetunion. 
    Ende der Sowjetunion - Kollaps einer Weltmacht
    Staatspräsident Michail Gorbatschow trat am ersten Weihnachtstag 1991 zurück, die rote Staatsflagge mit Hammer und Sichel verschwand vom Dach des Moskauer Kreml. Gescheitert war die UdSSR an ihren inneren Widersprüchen. Geblieben ist bei vielen Russen die Sehnsucht nach ehemaliger Größe.
    Gorbatschow hatte nicht mit so viel Widerstand gerechnet. Er gab nach und zog die Truppen aus Vilnius zurück. Im Februar 1991 stimmte die Mehrheit der litauischen Bevölkerung in einem Referendum für die Loslösung von der Sowjetunion. Aber erst, als im August 1991 in Moskau ein Putschversuch kommunistischer Hardliner fehlgeschlagen war und Boris Jelzin de facto die Macht übernahm, wurde Litauens Unabhängigkeit weltweit anerkannt. Seit 2004 gehört das Land der Europäischen Union und der NATO an.