Spätestens im Sommer ist es mit der Ruhe in Santiago de Compostela vorbei. Dann strömen Pilger aus der ganzen Welt in die galizische Stadt am westlichen Zipfel Spaniens. 300.000 Wallfahrer sollen es in diesem Jahr sein. Ihr Ziel ist die imposante Kathedrale auf der weitläufigen Praza do Obradoiro.
Vor fast 1000 Jahren wurde das Gotteshaus erbaut - zu Ehren des Heiligen Jakobus, dessen Grab sich hier befinden soll. Bevor die Pilger die Schultern der vergoldeten Apostelfigur im Altar berühren dürfen, heißt es erst einmal Schlange stehen. Klaus Herbers, Präsident der Deutschen St. Jakobusgesellschaft und Professor für mittelalterliche Geschichte, beobachtet die stetig anwachsende Zahl von Wanderern und Touristen seit vielen Jahren. 1972 ist er den Jakobsweg zum ersten Mal gegangen:
"Wir haben eigentlich keinen anderen Pilger auf unserem Weg getroffen. Es gab ein kleines Heftchen mit Hinweisen, wo man Adressen hatte, wo man vielleicht in einem Pfarrheim mal seinen Schlafsack hinlegen konnte. Der Weg war auch nicht ausgeschildert, sondern man musste sich mit Kartenmaterial beziehungsweise Beschreibungen durchschlagen."
Von den Pyrenäen für der Weg quer durch Nordspanien
Die Hauptroute des Jakobsweges, der so genannte Camino Francés, führt von den Pyrenäen quer durch Nordspanien. Schon im Mittelalter begegneten sich hier Menschen aller europäischen Länder, sogar aus Skandinavien oder England kamen sie. Das Grab des Heiligen Jakobus, das im 9. Jahrhundert von einem Eremiten entdeckt worden sein soll, wussten die Bischöfe Galiziens geschickt zu nutzen:
"Der große Boom ist eigentlich ablesbar an den Quellen ab dem 12. Jahrhundert, als eben ambitionierte Bischöfe, später auch Erzbischöfe dieses Grab zu einem Ort machten, der eben etwas sehr Wichtiges darstellt: das zweitwichtigste Apostelgrab im Westen."
Ob die Gebeine des Jakobus tatsächlich hier begraben sind, ist seit jeher umstritten. Doch Santiago de Compostela gehörte bald neben Rom und Jerusalem zu den wichtigsten christlichen Wallfahrtzielen. Erst in der Frühen Neuzeit ebbte der Pilgerstrom ab:
"Es ist ja nicht nur die Reformation, sondern es ist natürlich auch das, was die frühneuzeitlichen Staaten machen: der Passzwang. Sie lassen also im Grunde ohne Pass niemanden durch ihr hugenottisches Gebiet in Südwestfrankreich durch und viele andere Dinge mehr, die die Pilgerfahrt erschweren."
"Es ist ja nicht nur die Reformation, sondern es ist natürlich auch das, was die frühneuzeitlichen Staaten machen: der Passzwang. Sie lassen also im Grunde ohne Pass niemanden durch ihr hugenottisches Gebiet in Südwestfrankreich durch und viele andere Dinge mehr, die die Pilgerfahrt erschweren."
Die große Renaissance des mittelalterlichen Pilgerweges begann vor etwa 40 Jahren. Das hatte auch politische Gründe:
"In der Spätphase der Franco-Zeit, die ja bis 1975 beziehungsweise 76 dauerte, gab es schon über den Jakobuskult eine kleine Öffnung. Man versuchte wieder, sich stärker nach Europa zu öffnen. Nach dem Tod Francos ist dieser Jakobuskult auch deshalb ein bisschen in den Vordergrund gerückt, weil Spanien nach dem Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft 1986 sagte, das ist das, was wir Europa bieten können. Europa traf sich auf den Wegen nach Santiago de Compostela."
Ort der Begegnung - identitätsstiftend für Europa
Als ein Ort der Begegnung, der mit seiner Geschichte identitätsstiftend für Europa ist, erklärte der Europarat den Jakobsweg am 23. Oktober 1987 zum ersten Europäischen Kulturweg.
"Nachdem das eine Kulturstraße Europas war, haben sich gewisse Kommunen darum, ja, gleichsam gekloppt, um am Jakobsweg zu liegen. Und es wurden wissenschaftliche Gutachten eingeholt, um das zu bestätigen, und wenn sie am Jakobsweg lagen, dann konnten eben Fördergelder fließen."
Mit der Pilgerzahl wuchsen das Ansehen Galiziens und der Wohlstand in einer Region, die abgelegen am westlichen Rand Europas liegt.
Heute erleichtert vieles das Pilgern: Niemand muss mehr, wie im Mittelalter üblich, sein Testament machen, bevor er auf Wallfahrt geht. Noch immer ist der Glaube eine wichtige Motivation, aber nicht die einzige. Viele pilgern auf der Suche nach Besinnung in einer hektischen Zeit oder nach sportlicher Herausforderung, nach der Begegnung mit anderen oder mit sich selbst.
"Viele sagen, ich bin ein anderer geworden auf diesem Weg."
Nur der Weg an sich, die 800 Kilometer, die man zu Fuß oder mit dem Fahrrad hinter sich bringen muss, ist seit über 1000 Jahren derselbe geblieben.