"Andreas Brehme. Er steht, steht am Strafraumrand. Goycochea konzentriert sich. Jetzt ist der Ball freigegeben worden. Rechter Fuß. Und Tor. Tor für Deutschland!"
Eigentlich wäre der deutsche WM-Moment sein Moment gewesen. Aber Kapitän Lothar Matthäus tritt im Finale gegen Argentinien nicht zum Elfmeter an, weil sein rechter Schuh während der ersten Halbzeit kaputtgegangen ist. Matthäus erinnert sich: "In der Halbzeitpause sage ich zu unserem Zeugwart: 'Ich brauche neue Schuhe. Mit dem Schuh geht es nicht mehr weiter.' Und wir hatten früher nicht fünf, sechs Paar Schuhe dabei. Einen in grün, einen in gelb, einen in blau, wie das heute der Fall ist. Also geht er an die Kiste und gibt mir ein Paar Schuhe. Waren 'ne halbe Nummer zu groß. Ein Modell, das ich vorher nie getragen hatte. Und so habe ich dann die zweite Halbzeit gespielt. Aber wie gesagt: Beim Elfmeterpfiff wusste ich: Ich schieße nicht, weil ich mich nicht sicher gefühlt habe. War 'ne kluge Entscheidung, Andreas Brehme schießen zu lassen."
Beckenbauer spazierte einsam über den Rasen
Teamchef Franz Beckenbauer spaziert nach der Siegerehrung einsam über den Rasen in Rom. Mit der Goldmedaille um den Hals. Mit den Gedanken offenbar ganz woanders. Auf der Pressekonferenz ist Beckenbauer vom Erfolg berauscht und malt blühende deutsche Fußball-Landschaften: "Jetzt kommen die Spieler aus Ostdeutschland noch dazu. Ich glaube, dass die deutsche Nationalmannschaft über Jahre hinaus nicht zu besiegen sein wird."
Seine Weltmeister-Mannschaft ist 1990 ein westdeutsches Team. Matthäus, Brehme, Völler, Klinsmann, Buchwald und all die anderen holen den Titel in einer Zeit, als es noch zwei Deutschlands gibt. Die BRD und die DDR. Aber die steht während der vier WM-Wochen vor dem Zusammenbruch:
"Hier ist das Erste Deutsche Fernsehen mit der Tagesschau. Guten Abend, meine Damen und Herren. Mit der Einführung einer gemeinsamen Währung und der Aufhebung der Grenzkontrollen ist die Einheit Deutschlands seit heute 0 Uhr praktisch vollzogen. Der Staatsvertrag über die Wirtschafts-, Währungs-, und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik ist in Kraft getreten."
Genau eine Woche vor dem WM-Finale stehen die Ampeln für die Wiedervereinigung auf grün. Matthias Platzeck befindet sich damals am Anfang seiner politischen Karriere. Noch ohne Parteibuch. Aber seit März Mitglied im einzigen frei gewählten Parlament der DDR. Der spätere brandenburgische Ministerpräsident erinnert sich: "Das war auch für die Menschen im Osten im Lande eine unheimlich bewegte Zeit, weil es veränderte sich in diesen Tagen und Wochen eigentlich alles. Man sagte nicht umsonst: Geblieben sind die vier Jahreszeiten, der Rest hat sich komplett geändert. Man hatte manchmal das Gefühl, wenn man abends ins Bett gegangen ist und früh morgens wieder aufgestanden war, dass die Welt schon wieder ein Stück anders geworden war."
Aufgeladenes Achtelfinale mit Spuckattacke gegen Völler
Durchschnittlich 22 Millionen Menschen sehen die WM-Spiele der DFB-Elf live im deutschen Fernsehen. Das aufgeladene Achtelfinale gegen die Niederlande mit der Spuckattacke gegen Rudi Völler.
"Achtung, Rudi Völler scheint mir sehr erregt zu sein im Moment. Und jetzt muss der Unparteiische aufpassen, was Rijkaard da gemacht hat. Der Völler ist außer Rand und Band. Also das kann nicht sein. Das ist ein Skandal, diese Entscheidung."
Beim Finale sind es sogar mehr als 28 Millionen Zuschauer. In West und Ost. "Das war schon was ganz besonders. Und ich glaube, diese Fußball-Weltmeisterschaft war ein erster emotionaler Beitrag, der zur viel zitierten – was auch immer das ist – inneren Einheit, also schon einen Beitrag geleistet hat", erinnert sich Platzeck.
Identifikation mit der DFB-Elf in West und Ost
Dirk Heyne ist damals Gegner einiger westdeutscher Nationalspieler. Als Torhüter des 1. FC Magdeburg kennt er viele persönlich aus Ost-West-Duellen im Europacup. Die erfolgreiche WM des DFB-Teams verfolgt auch er im Fernsehen – und fiebert mit: "Man hat sich zum Großteil immer schon mit der deutschen Mannschaft identifiziert. Von der Seite her war immer eine große Euphorie, wenn es um große Spiele ging – um wichtige Titel. Dass man da immer für die deutsche Mannschaft war. Egal, ob im Europacup oder bei Länderspielen."
Die DDR hatte gegen Österreich die Qualifikation für die WM in Italien verpasst. Sechs Tage nach dem Mauerfall. Im November 1989. Mit Dirk Heyne im Tor: "Natürlich war man auf der einen Seite deprimiert, dass man es nicht geschafft hat, aber hat natürlich hinter der deutschen Mannschaft gestanden."
Zwei Jahre später steht die gesamtdeutsche Mannschaft wieder in einem Finale. Im EM-Finale. Und verliert gegen Dänemark. Franz Beckenbauer hatte sich eben doch getäuscht.