Archiv

Vor 40 Jahren in den Niederlanden
Ein Geiseldrama und die Schatten der Kolonialgeschichte

1977, das Jahr des Deutschen Herbstes, war auch in den Niederlanden von Terror überschattet: Am 23. Mai 1977 überfielen Aktivisten der molukkischen Minderheit einen Zug und eine Schule und nahmen zahlreiche Geiseln. Es war der dramatische Höhepunkt einer ganzen Reihe terroristischer Aktionen.

Von Matthias Bertsch |
    Schaulustige betrachten am 11 Juni 1977 nach Beendigung der Geiselnahme die beschädigte Lok. Am 23. Mai 1977 hatten süd-molukkische Terroristen einen Intercity bei Assen überfallen und 55 Menschen in ihre Gewalt gebracht. Gleichzeitig überfiel eine weitere Gruppe Südmolukker die Grundschule von Bovensmilde und nimmt 120 Kinder und fünf Lehrer als Geiseln. Die Terroristen, die für die Unabhängigkeit ihres Landes von Indonesien kämpfen, forderten die Freilassung von 21 in Holland inhaftierten Landsleuten und ein Flugzeug. Nach dem Scheitern mehrerer Vermittlungsversuche und der Freilassung der Schulkinder und weiterer Geiseln stürmt am 11.6.1977 eine Elite-Einheit der niederländischen Streitkräfte den Zug und befreit die verbliebenen 51 Geiseln. Zwei Geiseln und sechs der neun Terroristen werden dabei getötet. Ohne Bluvergießen werden die vier in der Schule verbliebenen Lehrer befreit. |
    Nach dem Scheitern mehrerer Vermittlungsversuche stürmte am 11. Juni 1977 eine Elite-Einheit der niederländischen Streitkräfte den entführtenZug und befreit 51 Geiseln aus der Gewalt süd-molukkischer Aktivisten (picture-alliance / dpa)
    Am Morgen des 11. Juni 1977 endete für zahlreiche Kinder und Erwachsene in den Niederlanden ein Alptraum. Knapp drei Wochen zuvor, am 23. Mai, hatten 13 junge Molukker zeitgleich einen Intercity und eine Grundschule in ihre Gewalt gebracht. Ihre Forderungen: die Freilassung ihrer inhaftierten Gesinnungsgenossen und die Unterstützung ihres Kampfes für einen eigenen Staat in Indonesien. Die Regierung ihrerseits machte die Freilassung aller Schüler zur Bedingung von Verhandlungen.

    Je länger die Situation dauerte, um so mehr drohte sie zu eskalieren, zumal die Entführer des Intercitys immer wieder Geiseln mit einem Strick um den Hals für kurze Zeit aus dem Zug ließen, um anzudeuten, dass sie zu allem bereit seien. Als schließlich das Wasser im Zug knapp wurde und sich die Entführer weigerten, neue Lebensmittel für die Geiseln entgegenzunehmen, beschloss die Regierung den Einsatz des Militärs, wie der niederländische Rundfunk meldete: "Zwei Geiseln aus dem Zug und sechs Terroristen wurden getötet und ohne Blutvergießen verlief die Befreiung der Schule in Bovensmilde."
    Nach den Geiselnahmen durch molukkische Terroristen sichern niederländische Polizeikräfte Knotenpunkten, wie hier nahe Groningen Am 23. Mai 1977 überfielen Aktivisten der molukkischen Minderheit einen Zug und eine Schule und nahmen zahlreiche Geiseln , es war der dramatische Höhepunkt einer ganzen Reihe terroristischer Aktionen.
    Nach den Geiselnahmen durch molukkische Terroristen sichern niederländische Polizeikräfte Knotenpunkten, wie hier nahe Groningen (imago stock&people)
    Verdrängter Teil niederländischer Kolonialgeschichte
    Die beiden Geiselnahmen waren der Höhepunkt einer Reihe terroristischer Aktionen, mit denen die Molukker die Niederlande an einen verdrängten Teil ihrer Kolonialgeschichte erinnerten. Die Molukker, Bewohner einer Inselgruppe im indonesischen Archipel, hatten bereits im 17. Jahrhundert den protestantischen Glauben der niederländischen Kolonialherren angenommen und sich als loyale Soldaten erwiesen. Als Indonesien 1949 unabhängig wurde, sahen auch sie ihre Chance gekommen und riefen die Republik der Südmolukken aus. Doch die indonesische Zentralregierung war nicht bereit, das Territorium zu teilen und bekämpfte die Unabhängigkeitsbestrebungen. Für die abziehende Kolonialmacht hieß das: Wir nehmen die molukkischen Soldaten vorübergehend mit.
    "Und da haben wirklich 99 Prozent dieser 4.000 Soldaten gesagt: Ja, wir vertrauen den Niederlanden, denen wir treu gedient haben, und wir gehen in die Niederlande, weil man hat uns gesagt, das ist nur zeitlich befristet, bis das alles geregelt ist in Indonesien, bis wir dort unseren eigenen Staat haben, und sind daher 1951, samt Familien, insgesamt knapp 13.000 Personen, per Schiff dann in die Niederlande gebracht worden von Java aus."
    Untergebracht wurden die Familien in Baracken und Lagern, eine Integration in die niederländische Gesellschaft war von beiden Seiten nicht gewünscht, betont Frederic Arntz, der ein Buch über die Geschichte der Molukker in den Niederlanden geschrieben hat. Mit den Jahren wurde eine Rückkehr nach Indonesien zwar immer unwahrscheinlicher, doch die ältere Generation der Mollukker hielt an ihrem Traum fest.
    Erst ihre Kinder, die in öffentliche Schulen gingen und dadurch viel Kontakt mit der Mehrheitsgesellschaft hatten, fingen an, die Situation infrage zu stellen, so Frederic Arntz:
    "Man muss bedenken, die erste Generation war den Niederlanden sehr treu, das waren treue Militärs, die auf Befehle gehört haben. Deshalb waren das nicht diejenigen, die so stark aufbegehrt haben, aber die zweite Generation, die dann erlebt hat, wie frei man sich eigentlich äußern kann, so wie es in den Niederlanden auch damals schon ja der Fall war, und dann erlebt haben, wie frustriert und traurig ihre Eltern waren, das ist etwas, das wurde ganz, ganz stark übertragen."
    Erst Ende der 70er-Jahre Programm zur Förderung der Molukker
    Von der niederländischen Gesellschaft – und dem Schweigen ihrer Eltern – enttäuscht, begannen die jungen Molukker, die Republik der Südmolukken zu idealisieren. Dass der indonesische Präsident Suharto 1970 in den Niederlanden als Staatsgast empfangen wurde, brachte das Fass zum Überlaufen. Dazu Frederic Arntz:
    "Das hat dann einfach dazu geführt, dass man gesagt hat, ja wir müssen immer krasser reagieren, weil, und das ist eigentlich Kern der Sache, die niederländische Regierung die Problematik der Molukker überhaupt nicht ernst genommen hat. Das ist einer der großen Kritikpunkte in diesem Spannungsfeld in den siebziger Jahren, das also erst nach 1977, also als im Grunde all diese ganzen Zugentführung, Geiselnahmen und Brandanschläge waren, die Niederländer verstanden haben, die niederländische Regierung verstanden hat, wir müssen handeln. Wir müssen uns mit den Molukkern nicht nur einigen, sondern wir müssen ihnen eine Zukunft in den Niederlanden bieten, und wir müssen sie integrieren."
    Ende der 70er-Jahre wurde die "Molukkersnota" verabschiedet, ein Programm zur Förderung der Mollukker in den Bereichen Bildung und Arbeit. Doch die wirtschaftliche Situation der Minderheit ist nach wie vor schwierig: Die meisten der inzwischen rund 45.000 Mollukker in den Niederlanden arbeiten in Branchen, die in Krisenzeiten schnell Mitarbeiter entlassen. Und so träumen heute wieder mehr Mollukker von ihrer "alten Heimat" auf dem indonesischen Archipel als vor 20 Jahren.