"So, also noch ein Schuss. Noch ein Schuss. Noch ein Schuss."
Erkennbar widerwillig unterbrach der baden-württembergische Ministerpräsident Hans Filbinger am 8. Juli 1978 seinen Sommerurlaub in der Schweiz. Wochenlang hatte er mit seiner Familie für Urlaubsbilder vor Alpenpanorama posiert - und geschwiegen. Jetzt stellte er sich den Fragen des Landtags.
"Wer mir einen Vorwurf machen will, der mag es tun. Er mag es tun, wenn er glaubhaft machen kann, dass er in der gleichen Situation mit Sicherheit Besseres fertiggebracht hätte als ich."
Die Vorwürfe waren alles andere als neu
Filbinger verstand die ganze Aufregung nicht. Begonnen hatte die Affäre ein halbes Jahr zuvor. Am 17. Februar 1978 druckte die Wochenzeitung "Die Zeit" eine Leseprobe aus einer unveröffentlichten Erzählung des Schriftstellers und Dramatikers Rolf Hochhuth. Dort beschäftigte sich Hochhuth, der 15 Jahre zuvor mit dem kirchenkritischen Schauspiel "Der Stellvertreter" weltweit bekannt geworden war, mit den Folgen von Verrat und Denunziation in der Nazi-Zeit. Kein Wunder, argumentierte er, dass Wehrmachtsrichter in der Nachkriegszeit in Baden Württemberg Karriere machen konnten, ohne befürchten zu müssen, mit ihrer Vergangenheit konfrontiert zu werden.
"Ist doch der amtierende Ministerpräsident dieses Landes, Dr. Filbinger, als Hitlers Marinerichter, der sogar noch in britischer Gefangenschaft nach Hitlers Tod einen deutschen Matrosen mit Nazi-Gesetzen verfolgt hat, ein so ‚furchtbarer Jurist' gewesen, daß man vermuten muß, er ist auf freiem Fuß nur dank des Schweigens derer, die ihn kannten."
Die Vorwürfe gegen Filbinger waren alles andere als neu. Bereits 1972 hatte er sich erfolgreich vor Gericht gegen den "Spiegel" gewehrt, der behauptet hatte, dass er noch im Juni 1945 Hitler als seinen "geliebten Führer" gerühmt hätte. Ein Richter untersagte der Zeitschrift diese und andere Behauptungen. Nun klagte Filbinger erneut – und erst das zwang Rolf Hochhuth zu einer Reaktion.
"Ich hab ja keineswegs mit dem Buch ein Attentat auf Herrn Filbinger geplant, sondern die ganze Sache hat für ihn diese Wendung deshalb genommen, weil er mich angezeigt hat und mich wissen ließ, dass ich mich öffentlich entschuldigen und zurücknehmen sollte, was ich über ihn geschrieben hätte, sonst würde er mich verklagen auf Zahlung von Ordnungsgeld in Höhe bis zu DM 500.000, ersatzweise Haft."
Die öffentliche Diskussion weitete sich
Hochhuth stellte sich dem Prozess. Zwar untersagte ihm das Stuttgarter Landgericht im Mai 1978 die Zuspitzung, Filbinger sei nur wegen des Schweigens anderer auf freiem Fuß. Die Formulierung "furchtbarer Jurist" dagegen fiel unter die Meinungsfreiheit. Filbinger war damit nicht zufrieden.
"Ich habe, das möchte ich deutlich sagen, kein einziges Todesurteil gefällt. Ich habe außer dem Fall Gröger, wo ich vor ein vollendetes Verfahren kam, an keinem Todesurteil mitgewirkt."
Hochhuth hatte die Zeit genutzt und den Fall des deutschen Matrosen Walter Gröger recherchiert, der sich 1945 im besetzten Norwegen verliebt hatte, desertiert war und mit seiner Verlobten nach Schweden fliehen wollte. Filbinger hatte dessen Exekution beschleunigt, Einspruchsmöglichkeiten verhindert und die Erschießung höchstpersönlich befehligt. Hochhuth war es, der Grögers Mutter erstmals mitteilte, was genau ihrem Sohn widerfahren war. Außerdem wurden insgesamt vier Todesurteile gefunden, die Filbinger gefällt hatte. Der blieb stur. Der "Spiegel" zitierte ihn mit den Worten …
"Was damals rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein!"
Die öffentliche Diskussion weitete sich. Bald wurde über all die Nazi-Juristen diskutiert, die in der Nachkriegszeit völlig unbehelligt übernommen worden waren. Dabei waren sie oft keine Mitläufer gewesen, sondern hatten Recht gebeugt, um ihre Ideologie durchzusetzen - was der höchste Jurist des Dritten Reiches, Hans Frank, 1933 unumwunden zugegeben hatte.
"Wir bekennen uns offen dazu, dass wir nationalsozialistische Juristen in jedem Recht nur das Mittel zu dem Zweck sehen, einer Nation die heldische Kraft zum Wettstreit auf dieser Erde sicherzustellen!"
Filbinger entschuldigte sich nie
Der Strafrichter und Buchautor Ingo Müller wies 1987 in seinem Standardwerk, dessen Titel "Furchtbare Juristen" sich auf das Hochhuth-Wort bezieht, nach, dass Nazi-Juristen in den Fünfzigerjahren wegen ihrer Urteile in der NS-Zeit niemals angeklagt wurden.
"Der Dolch des Mörders war unter der Robe des Juristen verborgen. Dass ein Rechtssystem prostituiert wurde, zu verbrecherischen Zielen, das ist noch eine neue, höhere Dimension des Unrechts."
Am 7. August 1978 trat Filbinger von allen seinen Ämtern zurück. Bis zu seinem Tod 2007 entschuldigte er sich nie.