Sätze wie dieser prägen in den fünfziger Jahren das Parteiprogramm der SPD, das noch aus der Weimarer Republik stammt. Das neue Programm wird über Jahre von verschiedenen Kommissionen vorbereitet. Zu den treibenden Figuren gehören Fritz Erler, Willy Brandt und Herbert Wehner. Aber auch der Parteivorsitzende Erich Ollenhauer. Die Kritiker geben seinem gemütlichen und rückwärtsgewandten Image die Schuld an den Wahlschlappen. In Godesberg gehört Ollenhauer dann zu den Verfechtern eines neuen Kurses.
Wir setzen uns in unserem Programm das Ziel, eine Gesellschaft zu errichten, in der der Mensch ein Leben in Freiheit führen und in Gemeinschaft mit anderen das gesellschaftliche Dasein formen kann, das heißt, der Mensch, seine Freiheit, seine Wirkungsmöglichkeiten für die Schaffung einer vernünftigen Gesellschaft stehen im Mittelpunkt unserer programmatischen Vorstellung.
Mit dem neuen Programm soll die Partei, verschlankt und den Ansprüchen der wirtschaftsfreundlichen Wunderzeit angepasst, auch den kalten Krieg überstehen: Das klassenkämpferische Vokabular, das dem der kommunistischen Parteien des Ostblocks gleicht, soll verschwinden: Herbert Wehner, dem ehemaligen Kommunisten und wortgewaltigen Vertreter des linken Flügels obliegt es, die Zweifler auf Kurs zu bringen.
Weil ich der Meinung bin, dass der Marxismus als eine Doktrin weder Partei bildend noch im Sinne dessen was wir als soziale Demokratie und als demokratischen Sozialismus wollen müssen, fördernd sein kann.
Der Parteitag von Godesberg endet am 15. November 1959, das neue Programm der Sozialdemokraten wurde mit der überwältigenden Mehrheit der Delegierten verabschiedet. Der Sozialismus als Endziel politischer Entwicklung wird aufgegeben, stattdessen soll nun die Initiative der Unternehmer gefördert werden – weshalb ihnen garantiert wird, dass ihr Eigentum am Ende nicht vergesellschaftet wird.
Das private Eigentum, auch an Produktionsmitteln, hat Anspruch auf Schutz und Förderung, soweit es keine Machtkonzentration darstellt. Es darf daher nicht enteignet werden.
Die Kritiker am neuen Kurs waren in der Minderheit, meldeten sich aber doch nicht völlig unhörbar. In einem Leserbrief eines SPD-Mitglieds nach dem Parteitag von Godesberg heißt es:
Man hat alle unsere Traditionen über Bord geworfen. Man hat die eigene Partei an die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft angepasst. Damit ist die Sozialdemokratie heruntergekommen zu einer gepflegten Rabatte im Nutzgarten des Kapitals.
Das Godesberger Programm verweist nun nur noch in Nebensätzen auf die historischen Wurzeln des demokratischen Sozialismus: Die klassische Philosophie, der Humanismus, die christliche Ethik. Deshalb legt es Wert auf die Eigenständigkeit der Kirchen und deren "besonderen Auftrag". Indem sich die Sozialdemokratie künftig nicht mehr weltanschaulich festlegen will, überzeugt sie insbesondere gläubige Christen, sich ihr anzuschließen und gewinnt Anhänger weit ins bürgerliche Lager hinein. Die klassische Klientel hingegen, die Arbeiter, verlieren ihre dominierende Position in der Partei – was die Architekten des Godesberger Programms wie Herbert Wehner wissend in Kauf nehmen.
Für die Arbeiter sei unser Programm zu wenig, ist gesagt worden. Gewiss, ich würde gestehen: Dieses Programm ist kein, im engeren Sinne verstanden, Arbeiterprogramm. Aber es ist nicht ein Programm, das weniger wäre, als ein Programm, das für die Arbeiter dienlich sein kann, sondern es ist insofern mehr als es für Arbeiterschaft und im breiteren Sinne Arbeitnehmerschaft - ich halt das für so entscheidend, weil es da um etwas geht, für die Sozialdemokraten auch in der Auseinandersetzung mit anderen sozialistischen Richtungen immer so wesentlich war: Die politische Macht zu erringen.
Es wird noch zehn Jahre dauern, bis mit Willy Brandt ein Sozialdemokrat Bundeskanzler wird. Das Kalkül, als Volkspartei an die Macht zu gelangen, ist aufgegangen – um den Preis der politischen Unterscheidbarkeit. Seit Godesberg ist es eng geworden in der politischen Mitte.