Innenhof der Pariser Sorbonne. Ein rothaariger Soziologie-Student erklärt die altehrwürdige Universität für besetzt: Daniel Cohn-Bendit, Sohn deutsch-jüdischer Immigranten. Der Grund: Die Direktion hat eine Kundgebung von 250 Studenten verboten. Sie wollen gegen ihre Aussperrung aus der Vorstadt-Universität Nanterre protestieren.
Mit seinen Worten löst Dani Le Rouge, Dani der Rote, am 3. Mai 1968 die Pariser Studentenrevolte aus. Denn die Universitätsleitung fordert Polizei an, um die Sorbonne räumen zu lassen. Die Gewalt eskaliert.
Die Straßenschlacht zieht sich bis in den Abend. 500 Personen werden verhaftet, unter ihnen Cohn-Bendit. Drei Tage später wird er mit anderen Studenten vor den Disziplinarausschuss der Sorbonne geführt. 1.500 Sicherheitskräfte stehen mit Wasserwerfern und Tränengas bereit. Wieder kommt es zur Konfrontation.
Proteste gegen das französische Klassensystem
"Und die Exzesse: Zum ersten Mal Autos verbrannt! Unsere geheiligten Autos! Rue Gay-Lussac, ich war da. Die ganze Straße eine einzige Feuerlinie von verbrannten Autos", erinnert sich Georg Stefan Troller, der an der Sorbonne studiert hat und 1968 als Fernsehjournalist in Paris arbeitet.
"Zum ersten Mal gab es eine junge Generation, die eben nicht so wollte wie die Alten, das war ein Protest gegen dieses verbürgerlichte Frankreich, dieses eingefrorene Frankreich mit seinem Klassensystem, in dem immer nur die Bourgeoisie das Sagen hatte und das Volk nicht zum Tragen kam."
"Nieder mit den Polizisten!" rufen die Studenten im Quartier Latin. Die Brutalität der CRS, der kasernierten Bereitschaftspolizei, schockiert landesweit. Nach der "Nacht der Barrikaden" mit 367 Verletzten ernten die Studenten immer mehr Sympathien in der Bevölkerung.
"Nehmt Eure Wünsche für Wirklichkeit!"
Heißt es auf einem Transparent. Auch die Arbeiter äußern ihren Unmut. Der Ton wird immer politischer. Daniel Cohn-Bendit:
"Der Staat unterstützt die Klassengegensätze, hat die Macht bei Radio und Fernsehen und verfügt über ein willfähriges Parlament. Wir werden uns auf der Straße erklären, wir werden die Politik der direkten Demokratie praktizieren."
Alles scheint möglich
Am 20. Mai streiken zehn Millionen Franzosen. Die Renault-Werke sind besetzt. Es gibt kein Benzin mehr. Zucker und Öl werden knapp. Die 5. Republik wankt – und mit ihr der alte Präsident de Gaulle. Alles scheint möglich.
"Die Gewalt ist das Letzte, was den Studenten bleibt. Sie sind jung und meinen, dass sie noch nicht Teil dieses Systems sind, das ihnen ihre Väter vorgesetzt haben", meint der weltberühmte Intellektuelle Jean-Paul Sartre. Das Engagement der Studenten, lobt er, setze "die Fantasie an die Macht". Georg Stefan Troller:
"Wie bekannt, war De Gaulle überrumpelt, überfordert, wusste nicht, was tun, flog ja damals nach Baden-Baden, um dort seinen General Massu aufzusuchen und ihn zu fragen: Steht wenigstens noch die Armee hinter mir?"
Die Zeichen stehen auf Veränderung
Doch der Präsident braucht keine Armee. Er schürt Ängste vor Anarchie und Kommunismus und verkündet Neuwahlen. Das bedeutet Zeitgewinn. Der Studentenrevolte geht die Luft aus. Die Mehrheit wählt De Gaulle, den Helden des Zweiten Weltkriegs. Und die Linke bricht ein. Dennoch stehen die Zeichen auf Veränderung.
"Man kam aus dem Hinterfragen nicht mehr heraus", erinnert sich die Schriftstellerin Annie Ernaux, damals Lehrerin an einem Gymnasium.
"Anders denken, sprechen, schreiben, arbeiten, leben: Wir fanden, man müsse alles ausprobieren. […] 1968 war das erste Jahr einer neuen Zeitrechnung."
Auch De Gaulle reagiert: Das Universitätssystem wird reformiert, den Arbeitern mehr Mitbestimmung gewährt. Neue Unruhen können so verhindert werden, nicht aber die Zersplitterung der gaullistischen Bewegung.
Im linken Lager verdrängen die Sozialisten die Kommunisten. Frankreich beginnt sich zu öffnen und zu modernisieren. Auch die Wirtschaftseliten denken internationaler.