"Es begann gegen fünf Uhr früh, als einige Bomben auf unsere Siedlung fielen. Dann war es erst mal still. Anfangs hatten wir keine Angst, denn die Amerikaner waren schon zweimal dagewesen und hatten Süßigkeiten verteilt."
Ha Thi Qui gehörte an diesem 16. März 1968 zu den Bewohnern einer küstennahen Siedlung in der Provinz Quang Ngai. In den amerikanischen Militärkarten hatte man den Ort als "My Lai 4" verzeichnet. Hubschrauber mit Soldaten waren in der Nähe gelandet. Die von dem 24-jährigen Leutnant William C. Calley angeführte Charly Kompanie, Teil einer Armee-Sondereinheit, bewegte sich gegen halb acht auf den Ort zu. Dann ging alles sehr schnell.
"Wir wurden aus den Hütten getrieben und mussten uns unter diesem Baum dort sammeln. Als wir warteten, nur Frauen und Kinder, wurde unter der Kokospalme dort drüben die erste Familie erschossen."
500 tote Zivilisten, davon 117 Kinder
Der das Dorf durchziehende Entwässerungsgraben wurde für viele zum Grab.
"Da haben uns die amerikanischen Soldaten reingeschubst und dann von oben mit den Maschinengewehren auf uns draufgehalten - ramram. Ich habe sofort das Bewusstsein verloren. Nach dem Aufwachen, konnte ich mich kaum bewegen, weil die Leichen über mir so hart und steif waren. Nur das Kind in meinem Bauch hat den Tag unversehrt überstanden."
Nach zweieinhalb schrecklichen Stunden waren über 500 Zivilisten tot, darunter 56 Säuglinge, 117 Kinder insgesamt, über 180 Frauen jeden Alters, siebzehn von ihnen trugen ein Kind aus, viele der Frauen vor ihrer Ermordung geschändet von der völlig enthemmten Soldateska. Auch das Vieh war vernichtet worden wie alle Hütten und Vorratskammern - verbrannte Erde und verstümmelte Leichen.
Der sehr viel später eingesetzte Chefermittler der US-Armee, General Kenneth Hodson: "Es war ein Massaker. Es war eine Verletzung aller Regeln der Kriegsführung, wie ich sie nie in meinem Leben gesehen hatte. Es war kaltblütiger Mord"
Der Journalist Seymour Hersh deckte auf
Das US-Militär und die Regierung versuchten zunächst alles, um das Verbrechen zu vertuschen. Und das, obwohl es Augenzeugen gab, - wie etwa Hugh Thompson, der den Mord aus seinem Hubschrauber beobachtet und Verwundete gerettet hatte. Oder auch der GI Ronald Ridenhour. Er sammelte Zeugenaussagen und schrieb immer wieder an hohe Militärs und Politiker. Ein von Ridenhour lancierter Bericht in einer kleinen Nachrichtenagentur weckte schließlich das Interesse des Journalisten Seymour Hersh.
Der Historiker und Politikwissenschaftler Bernd Greiner, profilierter Kenner der Geschichte des Vietnamkrieges: "Hersh ist dieser Spur nachgegangen, hat in monatelanger Kleinarbeit das Puzzle zusammengefügt und kam dann im November 1969 mit einem langen Artikel in der New York Times, der wirklich wie ein Schock auf die amerikanische Öffentlichkeit gewirkt hat, insbesondere weil Hersh einen sehr provokanten Titel für diesen Artikel gewählt hat, nämlich: Es war ein Verbrechen im Stil der Nazis."
Nun erst begann ein gesellschaftlicher, medialer Prozess. In dessen Verlauf erfuhren Amerika und die Welt wirklich, was in My Lai geschehen war.
Es gab nicht nur ein My Lai
Bernd Greiner: "Danach war das Interesse der Öffentlichkeit geweckt, danach fühlten sich auch viele GIs ermutigt und bestärkt in ihrem Vorsatz, ihrerseits in die Öffentlichkeit zu gehen und das zu berichten, was sie selbst aus erster Hand erlebt hatten."
Endlich installierte die Armee-Führung eine Untersuchungskommission. Zum Sonderermittler wurde General William Peers bestellt. Was er herausfand, war schockierend: Es gab nicht nur ein My Lai. Das Massaker bildete nicht die Ausnahme der Kriegführung in Vietnam - es war die Regel.
Für Calley, der seit November 1970 als einziger der Charlie Kompanie vor Gericht stand, waren die Vorgänge allenfalls tragisch.
In seinem Schlusswort sagte er: "Eine der größten Tragödien für mich - und für die paar Mann, die mir nahestanden - war die Tatsache, dass wir militärische Operationen für eine Sache betrieben, die wir nicht kannten. Und das Frustrierende ist, dass Du nicht weißt, warum du tust, was du tust."
Calley wurde am 31. März 1971 wegen Mordes in 22 Fällen zu lebenslänglicher Haft und zur Zwangsarbeit in einem Hochsicherheitsgefängnis verurteilt. Doch schon nach nur einem Tag ordnete Präsident Richard Nixon persönlich an, ihn zu entlassen. Er wurde in Fort Benning/Georgia, wo auch der Prozess stattgefunden hatte, unter Hausarrest gestellt. 42 Monate später war Calley wieder ein freier Mann.