"Ich stehe direkt neben der Tribüne auf dem Hofgartenplatz, dem großen Demonstrationsfeld, der Platz ist bis auf den letzten Quadratzentimeter mit Demonstranten angefüllt. Ich bin zwar nicht sicher, ob die Zahl von 30.000, die hier gerade auf der Rednertribüne genannt worden ist, zutrifft, ganz unberechtigt kann sie jedenfalls nicht sein."
Die Bundeshauptstadt Bonn war an diesem trüben Samstag im Mai 1968 Ziel eines Sternmarsches: Aus der ganzen Bundesrepublik und aus West-Berlin kamen Studenten, Gewerkschafter, Professoren, pazifistische Ostermarschierer, Mitglieder politischer und kirchlicher Gruppen an den Rhein, um gegen die von der Regierung der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD geplante Verabschiedung der Notstandsgesetze zu protestieren.
"Treibt Bonn den Notstand aus!"
Lautete das Motto, unter dem das Komitee "Notstand der Demokratie" zum Marsch auf die Bundeshauptstadt aufgerufen hatte. Als Teil der "Außerparlamentarischen Opposition", kurz APO, artikulierte dieses Bündnis von kritischen Intellektuellen, linken Gewerkschaftsleuten und politisierten Studenten den Unmut einer gar nicht so kleinen Minderheit über die politische und soziale Entwicklung.
"Klarheit tut not, heißt es auf den Transparenten, oder Schutz der Demokratie vor Notstandsgesetzen. Oder aber: Notstandsgesetze - der Tod der Demokratie."
"Kapitalismus führt zum Faschismus! Kapitalismus muss weg."
Breiter Protest von Intellekturellen
Das politische Klima war angespannt in diesen Maitagen des Jahres 1968: Vor gerade einem Monat hatte ein Rechtsradikaler auf Rudi Dutschke geschossen, die NPD saß in etlichen bundesdeutschen Länderparlamenten. Weltweit gab es Proteste gegen den Krieg der USA in Vietnam, in Paris gingen rebellische Studenten auf die Barrikaden, die französischen Gewerkschaften riefen aus Solidarität zum Generalstreik auf. Nach Einschätzung der APO-Anhänger – darunter Schriftsteller wie Heinrich Böll und Hans Magnus Enzensberger oder Wissenschaftler wie Jürgen Habermas - bildeten die Notstandsgesetze einen Anschlag auf die junge Demokratie der Bundesrepublik. Heinrich Böll in Bonn:
"Das Gesetz erscheint den meisten Bürgern dieses Staates als eine Art Verkehrsregelung bei Naturkatastrophen, während es in Wahrheit fast alle Vollmachten für eine fast totale Mobilmachung enthält."
Schon rund ein Jahrzehnt verfolgte die Regierungspartei CDU Pläne einer Notstandsverfassung. Um den Staat in Kriegs- und Krisenfällen handlungsfähig zu machen, sahen die Entwürfe den Einsatz der Bundeswehr im Inneren und die Einschränkung von Bürgerrechten vor – etwa des Rechts auf Freizügigkeit. Auf diese Weise sollten Vorbehaltsrechte der Alliierten aus dem Besatzungsstatut abgelöst werden. CDU-Innenminister Gerhard Schröder, Verfechter eines autoritären Ausnahmerechtes, 1960:
"Die Ausnahmesituation ist die Stunde der Exekutive, weil in diesem Augenblick gehandelt werden muß."
In voller Härte durchzusetzen waren solche Pläne, die die Rechte des Parlaments zusammenstrichen, nicht. Sozial- und Freidemokraten verweigerten sich; die Gewerkschaften, deren Streikrecht beschnitten werden sollte, opponierten. Erst ab 1966, nach umfangreichen Änderungen der Gesetzentwürfe in der Ära der Großen Koalition unter Kiesinger (CDU) und Brandt (SPD), konnte die Regierung mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit rechnen.
Notstandsgesetze fanden bislang nie Anwendung
Bundesjustizminister Gustav Heinemann (SPD) begründete den Meinungswechsel der Mehrheit der sozialdemokratischen Abgeordneten am Tage vor dem Sternmarsch nach Bonn:
"Wenn eine der für morgen empfohlenen Parolen lautet: 'Schütze Deine Freiheit gegen den Notstand’, so antworte ich: 'Es geht um den Schutz der Freiheit auch und gerade im Notstand!’"
Keine drei Wochen nach den großen Protesten verabschiedete der Bonner Bundestag am 30. Mai 1968 die Notstandsgesetze. Die Abgeordneten der FDP stimmten sämtlich dagegen, auch 53 der 217 SPD-Parlamentarier. Um den Notstandsgegnern die bittere Pille zu versüßen, wurde in Artikel 20 Grundgesetz allen Deutschen ein Widerstandsrecht gegen jeden eingeräumt, der es unternimmt, die verfassungsmäßige Ordnung zu beseitigen. In dem halben Jahrhundert nach ihrem Inkrafttreten sind die Notstandsgesetze nie angewendet worden. Die "totale Mobilmachung", die Heinrich Böll und andere Gegner der Verfassungsänderung befürchtet hatten, blieb aus.