Dass das Dichten keine besondere Sache sei, sondern etwas, das wir alle jeden Tag tun – diese Leitidee hatte André Breton, 1919 Gründer der Gruppe der Surrealisten und ihr Cheftheoretiker, in der deutschen Romantik gefunden. Nach dieser Einsicht hat er auch sein eigenes poetisches Schreiben gestaltet. Sein Ziel: Das Leben "wieder mit Leidenschaft aufzuladen", und Licht in das Dunkel der erlebten Augenblicke zu bringen.
"Meine Frau ihr Haar ein Holzfeuer / ihre Gedanken Wärmeblitze / mit der Taille einer Sanduhr / meine Frau mit der Taille eines Fischotters / zwischen den Zähnen des Tigers" - Aus dem Gedicht "L’Union libre" -
In Bretons Vortrag beginnt das Gedicht "Freie Liebe" wie ein langsam anschwellender Gesang, ausgelöst durch ein inneres Erdbeben, das später fast wie in Raserei Bild- und Wortexplosionen hervorbringt als Zeugnis eines starken erotischen Wunschtraums. Aber wer spricht da? Diese Frage hat André Breton sich selbst immer wieder gestellt, in seinem berühmtesten, 1928 erschienenen Buch "Nadja" gleich im ersten Satz: "Wer bin ich?"
Breton will die Welt enträtseln
Breton, 1896 in Tinchebray in der Normandie geboren, studierte Medizin und Psychiatrie, zwar ohne Abschluss, aber immerhin hatte er die Traumlehre Sigmund Freuds kennen gelernt. André Breton: "Möglicherweise will das Leben wie eine chiffrierte Botschaft entziffert werden."
Das war eine weitere Leitidee der Surrealisten, zu denen neben Autoren wie Louis Aragon, Philippe Soupault und Paul Éluard Maler wie Joan Miró, Giorgio de Chirico, Max Ernst, Salvador Dalí und Filmemacher wie Luis Buñuel und Fotografen wie Man Ray gehörten. Innerhalb der Gruppe, die nach einer Feststellung Walter Benjamins den radikalsten Freiheitsbegriff in Europa seit Michail Alexandrowitsch Bakunin vertrat und "dichterisches Leben bis an die äußersten Grenzen des Möglichen trieb", galt Breton als - nicht immer unumstrittener - Wortführer.
Um die Fassaden einer meist rational aufgefassten Wirklichkeit zu zerstören und die geheimnisvolle Magie des Lebens auszudrücken, plädierte er in mehreren Manifesten für Traumprotokolle, hergestellt durch Écriture automatique, ein automatisches Schreiben, das sich – nach Breton – der Intuition überlässt.
"Der erste Satz wird ganz von allein kommen, denn es … stimmt, dass in jedem Augenblick in unserem Bewusstsein ein unbekannter Satz existiert, der nur darauf wartet, ausgesprochen zu werden."
Sein Lebensziel: Auflösung von Widersprüchen
Am Reiseziel der Surrealisten ließ Breton keinen Zweifel aufkommen: "Es gibt einen bestimmten geistigen Standort, von dem aus Leben und Tod, Reales und Imaginäres, Vergangenes und Zukünftiges, Mitteilbares und Nicht-Mitteilbares, Oben und Unten nicht mehr als widersprüchlich empfunden werden."
Der Frage, wie Unterbewusstes und Bewusstes einen Zusammenhang bilden und eine Person widerspruchslos ganz sie selbst werden kann, ist Breton in seinem eigenen Schreiben gefolgt, indem er seine Bücher wie "Die kommunizierenden Röhren" aus dem Jahr 1932, "L’amour fou" von 1937 und vor allem "Nadja" als Studien über den Ursprung des Begehrens angelegt hat – "Nadja" versucht eine Lebensbeschreibung in Gestalt einer überwältigenden Liebesgeschichte.
Im Ergebnis sind allerdings weniger Bretons Antworten als die durch sein poetisches Verfahren sich ergebenden Fragen bedeutsam geworden, die er zum Beispiel in "Nadja" nach dem Eingangsruf "Wer bin ich?" sich selbst am Ende auf bewegende Weise gestellt hat.
Grundidee erfährt Wiederbelebung
"Wenn es Trugschlüsse waren, so muss zugegeben werden, dass sie mich mehr als alles andere veranlassten, mir selbst, dem, der von fern auf die Begegnung mit mir selbst zukommt, den immer erschütternden Schrei des ‚Wer da?‘ zuzuwerfen. Wer da? Bin ich es allein? Bin ich es selbst?"
André Breton starb am 28. September 1966 in Paris, wohin er 1946 aus der amerikanischen Emigration zurückgekehrt war. Seine Hoffnung, den Surrealismus als Bewegung noch einmal zum Leben zu erwecken, erfüllte sich nicht – an seine Stelle war der Existenzialismus getreten.
Immerhin leuchtete eine Grundidee André Bretons zwei Jahre später noch einmal auf als im Mai 1968 in Paris die rebellierenden Studenten mit einer Parole des Surrealismus verlangten: "Die Phantasie an die Macht!"