"Dieses Haus steht wenige Meter von der Grenze entfernt, die unsere Nation und diese, unsere Stadt spalten soll. Und deshalb freuen wir uns, dass wir seine Türen weit öffnen können für jeden, der das Erlebnis der Kunst sucht." Als Schaufenster des Westens in Richtung DDR – mit diesem Anspruch eröffnete Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Schütz am 15. September 1968 die Neue Nationalgalerie.
Der Museumsbau für Kunst der Moderne entwickelte tatsächlich eine enorme Ausstrahlung, nicht nur wegen des prominenten Architekten Ludwig Mies van der Rohe. Weil der ehemalige Bauhaus-Direktor seine filigrane Konstruktion aus Stahl und Glas mit einem massiven Erdgeschoss versehen hatte, stand sie wie ein Tempel der Antike erhöht auf einem Sockel und strahlte nachts gen Osten - als Leuchtturm der Moderne.
Fritz Neumeyer: "In der Nationalgalerie begegnen sich wie in keinem zweiten Bau von Mies klassische Monumentalität und moderne Transparenz. Wie eine Skulptur wird der moderne Stahlpavillon auf den sprichwörtlichen Sockel gestellt und feierlich in die Sichtbarkeit erhoben."
Entwurf für Spirituosenbrennerei Bacardi auf Kuba
Was der Architekturhistoriker Fritz Neumeyer bis heute als ästhetisch reizvollen Widerspruch schätzt, das hat Museumsleute zur Verzweiflung gebracht: Die Nationalgalerie geht auf einen Entwurf zurück, den Mies van der Rohe Jahre zuvor für ein Verwaltungsgebäude der Spirituosenbrennerei Bacardi auf Kuba konzipiert hatte. Für Kunstausstellungen war diese Architektur ursprünglich nie geplant.
Schon der erste Direktor Werner Haftmann hatte 1968 seine Probleme bei der Eröffnungsausstellung, einer Mondrian-Retrospektive. "Immerhin bin ich selber sehr glücklich, dass sich das Haus von Mies gegen meine Erwartungen so sehr in die Konzeption hineingefügt hat, die wir uns hier jetzt so ausgedacht haben. Es war also wesentlich leichter zu hängen als ich eigentlich gedacht habe."
Mies van der Rohe hatte gegenüber dem Entwurf für Bacardi die Raumhöhe von sieben auf 8,40 Meter erweitert und Betonträger durch acht äußerst schmale Stahlstützen ersetzt. Bei diesen Änderungen folgte der Architekt nicht den Wünschen der Museumskuratoren, sondern seinem eigenen Ideal: "Ich habe gesagt, Menschenskind, macht doch die Bude groß genug, dann kannste hin und her drin laufen, nicht nur in einer vorgezeichneten Bewegung oder was Du Dir gedacht hast wie es benutzt werden soll. Wir wissen ja gar nicht, ob die Leute das so benutzen, wie wir es gerne möchten."
Für jede Nutzung, für die wechselnden Ausstellungen von Malerei, Installationen oder auch Videokunst mussten Räume und Kunstwerke immer wieder neu austariert werden. Sei es mit schwebenden Bildern oder Stellwänden, durch Entfernen der wandhohen Vorhänge oder Einfärben der Glasfassade. Als Ausstellungsort ist die Neue Nationalgalerie eine Herausforderung. Auch Abmessungen und Dimensionen dieser Architektur sind einzigartig. So besteht das überkragende und schattenspendende Dach aus einem einzigen Stahlquadrat, 65 mal 65 Meter.
"Die Betonfritzen"
Binnen weniger Stunden konnte das Stahldach komplett montiert werden - während die Betonbauer auf der gegenüberliegenden Seite des Kulturforums, in Hans Scharouns Philharmonie, ihre Jahrestagung abhielten: "Mies sagte: ‚Die Betonfritzen‘. Die kamen morgens hier vorbei, da lag nur eine große Stahlplatte. Und als die abends aus ihren Tagungen herauskamen, war das ganze Gebäude da. Ja, das ist der Vorteil von Stahlbau."
Dirk Lohan, der Enkel Mies van der Rohes, hat bis 1968 die Bauarbeiten in Berlin geleitet. Er kennt den Geist des Gebäudes - und seines Architekten: "Man redet immer über ihn als Stahl- und Glasarchitekten, aber er war ein großer Kenner von Marmor, Steinen und Graniten und wie man die verarbeitet und so weiter. Detaillieren war ihm sehr wichtig, Genauigkeit, Präzision."
Das ging bis zu den Garderobenschränken aus englischer Mooreiche: wie edle Skulpturen stehen sie im Raum, bieten aber allenfalls Platz für Mäntel und Taschen von 300 Besuchern. Blockbuster-Ausstellungen mit Massenandrang war diese Nationalgalerie nicht gewachsen. Seit 2015 wird sie saniert - möglichst behutsam, denn schließlich geht es um Kunst, um Baukunst.