"Viele Jahre später, vor dem Erschießungskommando, sollte Oberst Aureliano Buendía sich an jenen fernen Nachmittag erinnern, als sein Vater ihn mitnahm, das Eis kennenzulernen."
Mit diesem Satz, gelesen von Gabriel García Márquez, beginnt einer der berühmtesten Romane der Weltliteratur: "Cien años de soledad" - "Hundert Jahre Einsamkeit". Am 5. Juni 1967 publizierte ihn der Verlag Sudamericana in Buenos Aires. Nach zwei Wochen war bereits die erste Auflage vergriffen. Von nun an rissen sich die Verleger um den bis dahin wenig erfolgreichen Romancier und Journalisten García Márquez. Als er das Werk schrieb, ging es dem damals 40-Jährigen so schlecht, dass er nur mit Mühe die Pesos für das Porto aufbringen konnte, um das Manuskript von Kolumbien nach Argentinien zu schicken. In einem Vortrag erinnerte er sich daran.
"Wie wir, Mercedes, ich und die beiden Söhne, diese Zeit überstanden haben, grenzt an ein Wunder, denn ich habe in den eineinhalb Jahren keinen einzigen Peso verdient. Und ich weiß nicht, wie es Mercedes geschafft hat, dass es uns an keinem Tag an Essen fehlte."
Familiensaga der Buendías
Viele seiner Romane wurden später millionenfach verbreitet, nicht nur in der spanisch-sprachigen Welt, sondern weltweit. Doch keiner hat die literarische Landkarte derart verändert wie die Familiensaga der Buendías in "Hundert Jahre Einsamkeit", dieser Allegorie der Geschichte Kolumbiens. Und zugleich für so viel begriffliche Verwirrung gesorgt mit seinem erzählerischen Grundstoff, diesem "magischen Realismus". Dabei stellt sich das Ganze für den großen Kolumbianer recht einfach dar.
"Tatsächlich ist diese magische Welt, von der so viel gesprochen und über die von den Kritikern so viel geschrieben wird, unser Alltagsleben, das Leben, an das wir uns gewöhnt haben. Ich bin in einem Haus von Großmüttern und Tanten aufgewachsen, in einem Haus von Frauen, wo man inmitten dieser zweiten Natur lebte, dieser zweiten Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit, hinter der es möglicherweise noch weitere unbekannte Wirklichkeiten gibt. Ich betrachte mich als einen reinen Realisten, der alltägliche Ereignisse katalogisiert, die später fantastisch erscheinen."
Komplexes Werk, verständlich geschrieben
Das Unglaubliche glaubhaft zu machen – darin liegt eine der oft kopierten literarischen Glanzleistungen von Gabriel García Márquez – und in dem ingeniösen Verschieben der Grenzen zwischen Fantasie und Realität, Bewusstem und Unbewusstem, in dem Überhöhen scheinbar trivialer Vorgänge, dem Ausloten des mythologischen Kerns seiner Geschichten. Der Nobelpreisträger kann dabei – ähnlich wie sein mexikanisches Vorbild Juan Rulfo – aus dem schier unermesslichen Erinnerungspotenzial der eigenen Familie schöpfen. Und wie dieser mit dem Dorf Comala erschuf auch er sich mit seinem tropischen Macondo einen fantastischen Ort der Weltliteratur. Trotz der Komplexität seines Werkes vermochte es Gabriel García Márquez, verständlich zu schreiben für Leser unterschiedlicher Kulturen und Kontinente. In 32 Sprachen ist der Roman übersetzt worden und soll eine Auflage von 50 Millionen Exemplaren erreicht haben.
"Die Leser von ‚Hundert Jahre Einsamkeit‘ sind heute eine Gemeinschaft, die, wenn man sie in einem Teil der Erde zusammenbringen würde, eines der 20 größten Länder der Welt bildeten. Das zeigt, dass es eine gigantische Anzahl von Personen gibt, die durch ihre Lektüre bewiesen haben, dass sie eine für Botschaften in spanischer Sprache offene Seele besitzen."
Dabei entspricht dieses Meisterwerk so wenig den Hauptingredienzien von Bestsellern: Spannung und Einfühlung des Lesers. Stattdessen bietet es einen kunstvoll ausgearbeiteten Kosmos und macht das Erzählen selbst zum Gegenstand der Geschichte. Der alte Miguel de Cervantes hat vor ein paar hundert Jahren dieses Verfahren erstmals angewandt. Gabriel García Márquez hat es sich angeeignet. Und sein Freund Carlos Fuentes hat "Hundert Jahre Einsamkeit" deshalb zu Recht den Don Quijote der lateinamerikanischen Literatur genannt.