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Vor 50 Jahren gestorben
Azorín, Großvater der Empörten

Um 1900 forderten in Spanien Literaten und Künstler die Rundumerneuerung des schwer krisengebeutelten Landes. Frontmann der "Generation von 1898" war der Autor José Martínez Ruiz, bekannt als Azorín. Der Geburtshelfer Spaniens literarischer Moderne ließ sich später vom Franco-Regime vereinnahmen.

Von Julia Macher |
    Amerikanische Truppen landen auf Kuba. Das vor der kubanischen Stadt Havanna ankernde US-Schlachtschiff "Maine" explodierte am 15. Februar 1898 unter ungeklärten Umständen, 260 Menschen kamen ums Leben.
    Der spanisch-amerikanische Krieg ab 1898 endet mit einer verheerenden Niederlage Spaniens. Madrid verliert alle Kolonien in Übersee. (picture-alliance / dpa)
    "Beim künstlerischen Schaffensprozess gibt es für mich zwei grundlegende Elemente: Zum einen die Muße, den Müßiggang, den geistigen Frieden. Zum anderen die Emotion, die Erregung. Die Muße ist Freundin des schöpferischen Prozesses, die Erregung ihr schlimmster Feind. Erregt kann man nicht schreiben. Man kann keine Idee entwickeln, wenn die Worte konfus und Hals über Kopf durcheinander purzeln."
    Eigentlicher Erschaffer der "generación del 98"
    Das literarische Glaubensbekenntnis, das José Martínez Ruiz 1931 verlas, war ein Lob der Nüchternheit. Eine schnörkellose Sprache und ein analytischer Blick aufs Detail waren sein Markenzeichen.
    Martínez Ruiz, besser bekannt unter seinem Pseudonym "Azorín", gilt als wichtigster Autor der "Generation von 1898", jener Schriftstellergruppe, die Ende des 19. Jahrhunderts die literarische Moderne nach Spanien brachte – und eine Rundumerneuerung ihres krisengeplagte Landes forderte. Mehr noch: Azorín war ihr eigentlicher Erschaffer, sagt Gemma Márquez, Professorin für Literaturwissenschaften an der Universität Barcelona: "Azorín hat in einer Serie von Artikeln das Verbindende seiner Generation untersucht, ihm einen Namen gegeben und hat so das literarische Produkt "Generation von 1898" geschaffen. Diese Generation spürt und leidet unter der enormen Distanz zwischen der offiziellen Sprache der Politik und der Presse und der Realität eines Landes, das in einer tiefen sozialen und politischen Krise steckt."
    Von Ortega y Gasset bewundert
    Als Azorín 1873 als ältestes von neun Geschwistern in der Provinz Alicante geboren wurde, hatte sich Spanien erstmals eine republikanische Verfassung gegeben. Das Experiment scheiterte bereits nach knapp zwei Jahren. Doch auch die restaurative Monarchie Alfons XIII. fand keine Antwort auf die Probleme des Landes: Die Kluft zwischen Stadt und Land war gewaltig, kaum ein Bauer konnte lesen oder schreiben, in den Städten hungerten die Arbeiter.
    José Martínez Ruiz, der mit Anfang zwanzig sein Jura-Studium über Bord warf, um als Schriftsteller und Journalist zu arbeiten, war zunächst fasziniert von anarchistischen Ideen, schwenkte jedoch bald um zu konservativen Positionen und schrieb für die bürgerliche Kulturzeitschrift Blanco y Negro. Manche stieß das vor den Kopf. Für andere zählte er zu den innovativsten zeitgenössischen Literaten. Der Philosoph José Ortega y Gasset, einer seiner größten Bewunderer, organisierte für ihn 1913 einen viel beachteten internationalen Kongress. Dazu Gemma Márquez: "Es ist eine Anerkennung für den Schriftsteller, der den Geist seiner Zeit, seiner Nation am besten verstanden hat. Etwas später als in anderen europäischen Ländern versuchten Spaniens Intellektuelle damals die kulturelle spanische Identität zu festigen. Azoríns Revision der Klassiker der spanischen Literatur wie Cervantes und Lope de Vega ist für diesen Prozess, diese Kanonisierung fundamental."
    Kompatibel mit dem franquistischen Kulturkanon
    Als 1936 der Bürgerkrieg ausbrach, floh Azorín mit seiner Frau nach Frankreich – und kehrte nach dessen Ende, drei Jahre später, zurück nach Spanien. Unter Francos Diktatur tat Azorín alles, um sich mit den neuen Machthabern auf guten Fuß zu stellen. Und das Regime machte ihn zu seinem kulturellen Aushängeschild: seine stilistisch außergewöhnlichen Landschaftsbeschreibungen, seine Essays zu Cervantes und Don Quijote, seine Suche nach dem Kern der spanischen Existenz fügten sich gut in den franquistischen Kulturkanon.
    Vorläufer der Bewegung der Empörten von heute?
    Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
    Viele Menschen in Europa arbeitslos (Fabian Stratenschulte dpa)
    Als José Martínez Ruiz am 2. März 1967 mit 93 Jahren starb, führten mehrere Minister den Trauerzug an. Die Vereinnahmung durch die Diktatur ist einer der Gründe, warum Azorín in Spanien heute nicht mehr präsent ist. Dabei haben die großen Themen seiner Generation nichts von ihrer Aktualität verloren, so Literaturwissenschaftlerin Gemma Márquez: "Der gleiche Missmut darüber, dass der offizielle Diskurs die Probleme verschleiert, statt sie zu benennen, hat den 15. Mai, die Protestbewegung der Indignados, der Empörten angetrieben. Auch sie haben die Erfahrung gemacht, dass die Sicht der Medien, der Politik auf die Gesellschaft nichts mit der Realität zu tun hatte."

    Die "Generation von 1898" als Avantgarde der Bewegung der Empörten: eine Hommage, die den Vertretern der wichtigsten Strömung der neueren spanischen Literatur vermutlich gut gefallen hätte.