Archiv

Vor 50 Jahren gestorben
Lucio Fontana - Meister der Schnittbilder

Er war Maler und Bildhauer, doch seine berühmtesten Werke schuf er mit dem Messer. Lucio Fontana begründete mit seinen Schnittbildern eine symbolische Erneuerung der Kunst und war auch ein Meister der medienwirksamen Inszenierung.

Von Carmela Thiele |
    Lucio Fontana bei einer Ausstellung in der Mailänder Galleria del Naviglio im Jahr am 28.02.1952 | dpa ©Farabola/Leemage | Keine Weitergabe an Wiederverkäufer.
    Lucio Fontana bei einer Ausstellung in der Mailänder Galleria del Naviglio im Jahr 1952 (dpa / Farabola / Leemage)
    Das Dunkle, Archaische muss ihn fasziniert haben, und vielleicht wollte er eben diese verborgene innere Wildheit des Menschen nach außen kehren? Lucio Fontana schuf seine berühmtesten Bilder nicht mit dem Pinsel, sondern mit dem Messer. Aus dem Jahre 1964 stammen Fotografien, die ihn in Aktion zeigen, bei dramatischer Beleuchtung, schwarzweiß: Der Künstler setzt das Messer an und schlitzt die Bildfläche auf - von oben nach unten. Lucio Fontanas "Talgi", seine Schnittbilder, hängen in fast jedem größeren Museum für moderne Kunst. Selten ist eine Werkgruppe so sehr zum Markenzeichen eines Künstlers geworden.
    "Jetzt mache ich die Schnitte auch als Zugeständnisse an den Markt, von dem wir leider abhängen, weil die Kunsthändler und die Sammler darauf erpicht sind, und so mache ich sie eben."
    Die Kunstwelt feierte den knapp 60-jährigen Italiener für seine bilderstürmerische Geste. Sie schien der damals in den USA erfolgreichen Farbfeldmalerei Paroli zu bieten. Dabei war Lucio Fontana nicht in erster Linie Maler, sondern Bildhauer. Was ihn interessierte, war der Raum, das Experiment im Raum. Für ihn war die Kunst eine Wissenschaft. Und darin war er ungeheuer produktiv.
    "Dann habe ich Farben benutzt, wirklich zu Dekorationszwecken, worin ich nichts Negatives sehe, schließlich kann man Wände dekorieren, und Michelangelo hat die Sixtinische Kapelle dekoriert. Später hat 'dekorieren' dann diese abwertende Bedeutung bekommen."
    Fontanas "Weißes Manifest" für die Kunstwelt
    Die Kunst war ihm nicht heilig, sondern ein Abenteuer. Zunächst hatte er wie sein Vater als Auftragsbildhauer gearbeitet. Obwohl er darin recht erfolgreich war, wollte er etwas anderes. Noch im Alter von 30 Jahren studierte er in Mailand an der Accademia di Belle Arti di Brera Bildhauerei. Rein technisch war der 1899 in Argentinien geborene Italiener allen anderen Studenten weit überlegen. Dennoch probierte er in dieser Phase alle möglichen Stile aus, um am Ende den italienischen Futuristen seine Referenz zu erweisen. Passagen des von ihm initiierten "Weißen Manifests" aus dem Jahre 1949 klingen wie Zitate aus einem der "Futuristischen Manifeste".
    "Es gibt kein ruhiges Leben mehr. Der Begriff der Geschwindigkeit ist eine Konstante im menschlichen Leben. Das Zeitalter paralysierter Formen und Farben ist vorüber."
    Lucio Fontanas erster, im selben Jahr medienwirksam inszenierter Auftritt war die Durchlöcherung der Leinwand. Das war lange bevor er mit seinen Schlitzbildern den Kunstmarkt eroberte.
    "Meine Entdeckung ist das Loch, punktum; und nach dieser Entdeckung kann ich auch beruhigt sterben."
    Lucio Fontanas "Concetto Spaziale" im Musée d’art moderne von Paris, France, bei einer Ausstellung im April 2014.  EPA/ETIENNE LAURENT |
    Lucio Fontanas "Concetto Spaziale" im Pariser Musée d’art moderne (EPA)
    Doch sollte Lucio Fontana noch ein großes, vielfältiges Werk schaffen, in dem er seine Idee in unterschiedlichen Formen und Materialien variierte. Den Lochbildern, den "Buchi", folgten die "Nature", Skulpturen aus Terrakotta, und die "Barocchi" aus Keramik. Seine berühmten "Talgi", die Schnittbilder, waren nur eine Erscheinungsform seiner Idee des "Concetto spaziale", seines Raumkonzepts, das ihm eine Fusion aller Kunstgattungen ermöglichte.
    Eine neue provokative Seite
    Auf dem Höhepunkt seines Erfolgs stellte der fast Siebzigjährige auf der documenta 4 in Kassel und auf der Biennale von Venedig aus. Im selben Jahr, am 7. September 1968, starb Lucio Fontana in Varese. In den 1990er-Jahren verblasste die bilderstürmerische Geste seiner Kunst.
    Der ehemalige Direktor des Guggenheim-Museums, Thomas Messer: "Wenn wir Fontana, ob Schlitze oder anderes, heute betrachten, so betrachten wir sie nicht mit den gleichen Augen, mit denen sie damals gesehen wurde. Selbstverständlich lässt die Radikalität in dem Sinne nach, und wir betrachten es mehr und mehr als ein Kunstwerk, das uns anspricht durch seine Vollkommenheit."
    Jüngere Forschungen hingegen haben eine neue, provokative Seite seines Werks entdeckt. So lassen sich seine Schlitzbilder auch als sexuelle Akte deuten. Auf dem erwähnten ersten Foto, das den Moment des Schlitzens der Leinwand dokumentiert, ist zunächst nur der erhobene Arm des Künstlers mit dem Messer zu sehen, in der zweiten Aufnahme berührt das Profil des Künstlers den Spalt der Leinwand, der sich wie eine Vagina nach innen wölbt. In diesem Sinne war für Lucio Fontana die Kunst nicht nur Experiment, Abenteuer und Provokation, sondern auch ein wilder, erotischer Akt.