"Die leer stehenden Häuser waren eine Provokation gegen die Bevölkerung, gegen die Wohnbevölkerung und auch gegen die Wohnungssuchenden. Die jungen Leute haben sich konsequent verhalten." So eine Westendbewohnerin im Jahr 1974. Sie zeigte Verständnis für die Hausbesetzungen von Studenten und ausländischen Arbeiterfamilien.
Frankfurts SPD-Regierung hatte Mitte der 1960er-Jahre das Westend zum "City-Erweiterungsgebiet" erklärt und damit das Signal zum Bürogebäude- und Hochhausbau gegeben.
"Und jeder, der mit Spekulation zu tun hatte und das mitbekommen hat, hat sich da eingekauft. So entstand also ein richtiges Spekulationsfieber, was wir sonst nur von der Ölzeit in USA kennen, und die Fläche war unglaublich begehrt. Auf diese Weise wurde mit Wissen und Einverständnis der Stadt unter anderem das Westend zum bevorzugten Spekulationsobjekt." So Heiner Boehncke, Autor und Literaturprofessor. Er hat den Frankfurter Häuserkampf zwischen 1970 und 1974 hautnah mitbekommen, war Sprecher des sogenannten Häuserrats, in dem sich Studenten, ausländische Arbeiterfamilien und verdrängte Westendbewohner organisierten.
Brutale "Entmietung" der Häuser
Die Spekulanten, die viele Gründerzeitvillen und -Wohnhäuser aufgekauft hatten, ließen sie oft leer stehen und mutwillig verfallen, um dann die Abrissgenehmigung zu bekommen, so Heiner Boehncke:
"Es war brutal. Es wurden Leute - Entmietung nannte man das ja, die Heizungen wurden zerstört, im Winter war es bitterkalt. Es gab aber auch Schlägereien, Schlägertrupps. Es war also eigentlich so wie in der Frühzeit des Kapitalismus, ein ganz roher Umgang mit den Bewohnern unter anderem des Westends."
Am 19. September 1970 war es dann soweit. Ein fünfstöckiges Haus in der Eppsteinerstraße 47 wurde von italienischen, spanischen und türkischen Familien und einem studentischen Filmkollektiv besetzt. Man verbarrikadierte sich monatelang und erlebte eine ungeahnte Solidarität im Viertel, erinnert sich Heiner Boehncke:
"Die Bewohner vom Westend - das ist auch das Einmalige, glaube ich, an diesem Frankfurter Häuserkampf - die waren so aufgeladen und die waren so latent böse und wütend, dass sie eigentlich nur auf den Häuserkampf gewartet hatten. Da gab es Solidarisierungsfeste, da konnte man bei Schade & Füllgrabe kostenlos einkaufen, da kriegte man Geldspenden. Traumhafte Zustände, die aber nicht sehr lange anhielten."
Joschka Fischers "Putztruppe" - militant gewaltbereit
Das Beispiel Eppsteinerstraße machte Schule. Immer mehr Häuser wurden besetzt, linke Studentengruppen erkannten die Chance, diese Bürgerinitiativen zu unterstützen und zu ihrer Sache zu machen, Demonstrationen gegen eine verfehlte Wohnpolitik zu organisieren.
"Kapital kennt keine Moral", lautete ein Slogan. "Darum gegen Vermieterwillkür, für ein neues Mietrecht – gegen Bodenspekulation, für ein soziales Bodenrecht."
Die SPD-Regierung der Stadt Frankfurt fuhr einen Schlingerkurs. Mal wurden Hausbesetzungen toleriert, mal wurden sie mit heftiger Polizeigewalt aufgelöst. Als im März 1973 ein besetztes Haus im Kettenhofweg 51 geräumt werden sollte, lieferten sich Hausbesetzer und Polizei eine regelrechte Straßenschlacht mit zahlreichen Verletzten auf beiden Seiten. Vor allem die sogenannte Putztruppe des späteren Grünen und Außenministers Joschka Fischer tat sich dabei mit militanter Gewaltbereitschaft hervor.
Als im August 1973 das Selmi-Hochhaus, damals der höchste Büroturm der Bundesrepublik, kurz vor dem Richtfest Feuer fing, jubelten Tausende von Zuschauern und skandierten das Lied: "So ein Tag, so wunderschön wie heute".
Trotz eines erlassenen Bebauungsstops für Hochhäuser im Westend entstanden in der Folge noch zahlreiche Türme. Allerdings wurden auch zahlreiche Gründerzeit-Häuser vor dem Verfall gerettet.
Boehncke: Frankfurt als Beginn einer Kette von Bürgerinitiativen
Die ersten Hausbesetzungen in der Geschichte der Bundesrepublik und der sogenannte Häuserkampf zwangen die Politik, sich mit dem Problem der Spekulation auseinanderzusetzen und sich der Herausforderung sozialer Wohnungsbaupolitik zu stellen. Dazu Heiner Boehncke:
"Es war vielleicht die größte, erfolgreichste Bürgerinitiative. Und ich denke schon, ausgehend von Frankfurt, kam es zu einer Kette von Bürgerinitiativen bis heute. Und diese Selbstermächtigung der Mieter und der Bewohner, dieser Schub an subjektiven Ausdrucksmöglichkeiten, das ist von Frankfurt ausgehend bis heute in der Bundesrepublik gang und gäbe."