"Tommy ist ein ganz normaler Junge, aber dann macht er eine traumatische Erfahrung, die ihn taubstumm und blinden werden lässt. Die Familie verstößt ihn, und weil er nichts hören und sehen, durch seine Umwelt nicht beeinflusst werden kann, erlangt er eine höhere Bewusstseinsstufe."
Der 23-jährige Pete Townshend wollte mit "Tommy" seine erste Rockoper schreiben. Sein indischer Guru Meher Baba habe ihn dazu inspiriert. Es wurde ein Songzyklus über Spiritualität, in dem, so der Gitarrist, "der Held von der Familie, von Schulfreunden und von Dealern missbraucht wird." Townshend spürte, dass Popmusik seinerzeit ein Barometer für sozialen Wandel wurde. Ihm schwebte eine Botschaft aus "compassion, love and introspection", aus Mitgefühl, Liebe und Innenschau vor.
"Mit The Who hatte ich die Chance, eine Musik zu machen, die den Menschen etwas bedeutet und das ausdrückt, was wir alle aussagen wollten: als Gruppe, Gang, Kameraden, Geheimbund und Subversive."
Anfangs war noch kein Titel da, doch bald kam man auf "Tommy", den Spitznamen für britische Soldaten im Ersten Weltkrieg. Ein Songzyklus über ein "deaf, dumb and blind kid", einen Jungen, der einen psychischen Schock erleidet, als der im Krieg verschollen geglaubte Vater wie von den Toten zurückkehrt und den Liebhaber der Mutter tötet.
"Mein Job war Hits zu liefern"
Durch ihre spektakulären Liveauftritte, eine ganze Serie von Hitsingles sowie drei Alben mischten The Who damals wöchentlich die britische Rockszene auf. Doch Townshend suchte eine neue, noch größere Herausforderung, einen radikalen Richtungswechsel.
"Mein Job war Hits zu liefern, und seit Kurzem hatte ich keine mehr produziert."
Dass sich die Aufnahmen zu seinem opus magnum über fast sechs Monate hinziehen würden, konnte niemand ahnen: an jenem 19. September 1968 in den IBC Studios in London. In einer kollektiven Anstrengung formte nur die Band aus den Skizzen das abendfüllende Werk "Tommy".
"Der Junge wird von The Who gespielt. Er hört nichts, er sieht nichts, er existiert in einer Welt der Schwingungen. Sein Wesen enthüllt sich dem Zuhörer durch die Vibrationen der Musik, die The Who erzeugen ... Es ist alles sehr komplex, ich weiß nicht, ob das rüberkommt."
"Ich fand, wir sollten alles selbst spielen"
Townshend selbst agierte als Tommys "innere Stimme". Dass er auch die Krankenschwester bei dessen Geburt, den Vater und die "Acid Queen", eine Prostituierte, sang, macht es etwas verwirrend. Strikt abgelehnt hatte der Bandleader den Wunsch seines Managers Kit Lambert, ein Orchester als Begleitung anzuheuern.
"Ich fand, wir sollten alles selbst spielen."
Tommy - eine oder gar die Rockoper schlechthin? Die erste war es nicht, denn The Pretty Things, The Kinks und Keith West hatten sich bereits an dieser Idee versucht.
Vor allem mit einer klassischen Oper hat der rätselhafte, durch Psychosen und Obsessionen mäandernde Zyklus wenig gemeinsam, nicht mal einen erkennbaren Plot.
"Wir wussten, was wir taten war mehr der britischen Music Hall als der großen Oper verpflichtet."
"Da ist eigentlich keine Botschaft"
Während sich die Kritiker noch über den Wert des Werkes stritten, war das Doppelalbum mit dem blau-weißen Gitter-Cover auf Anhieb ein Erfolg: Nr. 2 in den britischen und Nr. 4 in den US-Charts. Weit über 20 Millionen Tonträger wurden bis heute weltweit verkauft, nur wenige Jahre nach dem Erscheinen wurde die Rockoper verfilmt und 1993 auch als Broadway–Musical aufgeführt.
"Da ist eigentlich keine Botschaft in 'Tommy', es ist Dichtung. Tommy kann niemals leibhaftig existieren. Aber es ist die Art Märchen, die einen Funken in die Köpfe der Leute setzt."