Darf eine neue Vertonung der alten liturgischen Messe vergnügt-bizarr beginnen? Jadoch! Denn Leonard Bernstein heißt der Komponist der zeitgemäßen Messe-Frömmigkeit. Der US-Amerikaner holte sie am 8. September 1971 in Washington ans Licht der Welt - sein spektakulärstes Musikstück seit dem Musical "West Side Story".
Bernstein nannte das monumentale Werk einfach nur "Mass", so wie es die Kollegen Bach, Haydn oder Mozart mit ihren Messen getan hatten. Aber er dachte sich seine Komposition ganz anders, baute sie modern, also komplex zusammen. Der Impuls dazu entsprang seiner enormen geistigen und gesellschaftspolitischen Energie.
Gottesdienst im Gewand fieberhaften Musiktheaters
Leonard Bernstein ließ hier seinem Showtalent freien, doch kontrollierten Lauf. Als Grundlage diente ihm zwar die überlieferte Messe der römisch-katholischen Liturgie, den lateinischen Abschnitten fügte er jedoch neue, eigene Texte hinzu, auch solche des Broadway-Autors Stephen Schwartz. Religiöse Gottesfurcht wurde mit einem diesseitig emotionalen Lebensgefühl versehen. Der vollständige Titel erklärt das: "Mass - Ein Theaterstück für Sänger, Schauspieler und Tänzer". Bernstein schuf einen bunten Gottesdienst im Gewand eines fieberhaften Musiktheaters, komponiert zur Eröffnung des "John F. Kennedy Center for the Performing Arts" in Washington D.C. Den Auftrag dazu hatte er von Jacqueline Kennedy erhalten, der Witwe des 1963 ermordeten US-Präsidenten.
Der zerklüftete Montage-Stil des Komponisten Bernstein provozierte die Beobachter schon bei der Washingtoner Uraufführung von "Mass" – man schwankte zwischen Enthusiasmus und Skepsis oder Ablehnung. Eine perfekte "Synthese zwischen Broadway und Konzertsaal", nannte sie der Bernstein-Biograph Humphrey Burton. Kritiker wie Paul Hume und John Ardoin glaubten, etwas Einzigartiges erlebt zu haben:
"Die großartigste Musik, die Bernstein je geschrieben hat. Es hat mich erschüttert, begeistert und bewegt wie wenige neue Werke in jüngster Zeit." - der Kritikerpapst der "New York Times" hingegen, Harold Schonberg, lehnte Bernsteins "Mass" ab, er nannte die ernsten getragenen Musikteile prätentiös: "Es ist eine Showbusiness-Messe, das Werk eines Komponisten, der unbedingt up to date sein will. Eine Verbindung aus Oberflächlichkeit und Überzogenheit."
Hochamt einer zersplitternden Glaubensgemeinschaft
Das Amerika der 1960er- und frühen 1970er- Jahre musste dramatische Verwerfungen verkraften: der Vietnam-Krieg, die sexuelle Revolution, Frauen- und Umweltbewegung erzeugten Bewusstseinskrisen. Bernsteins bitteres Anliegen in seiner "Mass" war der Schrei eines Gottsuchenden nach Frieden. In zweiunddreißig Abschnitten lässt er die Traumata und Ängste ineinandergreifen oder sozusagen explodieren: Latein und Englisch, Jazz und Klassik, Gebete, Sprecharien. Dem allem diente ein gewaltiger Klangapparat - mit großem Orchester, einer Rockband und zwei Chören, einer Tanzkompanie, Straßenmusikern und Tonbandklängen.
Im Mittelpunkt der Messe agiert ein Zelebrant in seiner zersplitternden Glaubensgemeinschaft. Ganz am Ende, so erklärte es damals Bernstein selbst, bleibt es: "...jedem einzelnen auf der Bühne überlassen, in der schmerzlichen Meditation in sich selbst einen neuen Kern des Glaubens zu finden, den er dann in einer Umarmung als Geste des Friedens an seinen Nächsten weitergeben kann."