"Ihr habt einen lichten Bart und dichten Verstand, eine kleine Gestalt und ein großes Herz, seid jung an Jahren und alt an Überlegung, und in der kurzen Zeit, die Ihr Schüler gewesen seid, habt Ihr mehr gelernt denn hundert andere, die als Meister geboren wurden."
Temperamentvolle Gemälde
Diese augenzwinkernde Beschreibung stammt aus der Feder Andrea Calmos - Weggefährte von Jacopo Tintoretto und im 16. Jahrhundert ein beliebter Bühnenkomödiant in Venedig. Sie zeichnet ein authentisches Bild des Renaissance-Künstlers. Der klein gewachsene Sohn eines Färbers mit dem Spitznamen "Tintoretto" - Färberlein - galt als überaus ehrgeizig, radikal und eigenwillig. Sein Temperament schlug sich auch in seinen Bildern nieder: Dramatisch beleuchtete Szenen, die über den Bildrand hinauszuwachsen scheinen. Der Kunsthistoriker Roland Krischel:
"Ein typischer Tintoretto ist ein Gemälde, in dem eine Parallelwelt entfaltet wird, erfüllt von dynamischem Bildgeschehen. Das Ganze mit temperamentvollem Pinselstrich auf die Leinwand gebracht, sodass der Betrachter in das Bild verwickelt wird."
In Zeiten großer Umwälzungen
In Venedig, wo Tintoretto mutmaßlich am 29. September 1518 als Jacopo Robusti zur Welt kam, wurde er als Rebell geachtet und beargwöhnt. 1538, mit knapp zwanzig, ließ er sich als selbstständiger Meister mit eigener Werkstatt nieder und setzte alles daran, sich auf dem hart umkämpften venezianischen Kunstmarkt einen Platz zu erobern.
Dabei ging er so weit, seine Malerei umsonst oder zum Materialkostenpreis anzubieten, um sich prestigeträchtige Aufträge zu sichern. Bei einer Ausschreibung der Scuola Grande die San Rocco etwa, einer damals einflussreichen Bruderschaft, war er mit dieser Strategie erfolgreich. Er stach sogar seinen Hauptkonkurrenten Tizian aus - damals Staatsmaler der Republik Venedig. Über einen Zeitraum von zwei Jahrzehnten schuf Tintoretto in den Gebäuden der Bruderschaft über 50 Wand- und Deckengemälde zu biblischen Themen.
"Die Malerei erlaubte es ihm, auf Augenhöhe mit den Theologen seiner Zeit sich einzumischen in spirituelle Diskussionen, nämlich durch sehr ausgeklügelte ungewöhnliche originelle religiöse Bilder."
Diskussionen, die in der weltoffenen Handels- und Industriestadt Venedig lebhaft geführt wurden. Reformation und Gegenreformation - von diesem Spannungsfeld war Tintorettos Lebenszeit geprägt. Er nutzte die Umwälzungen seiner Epoche als Chance, sich von gängigen Darstellungsweisen zu lösen und eigene progressive Sichtweisen auszudrücken.
"Ein berühmtes Beispiel, das in den letzten Jahren in der Wissenschaft Furore gemacht hat, ist zu finden in Tintorettos Darstellung des Jüngsten Gerichts. Ein riesiges Gemälde, das sich im Chor seiner Lieblingskirche Madonna dell'Orto befindet, noch heute, und wo man im oberen Bereich des Gemäldes einen heiligen Michael sieht, wie er häufig bei Darstellungen des Jüngsten Gerichts zu finden ist, mit Schwert und Seelenwaage. Nur: Diese Seelenwaage hat keine Schalen. Das heißt, die Taten des Menschen sind vollkommen unerheblich am Tag des Jüngsten Gerichts."
Malerei als Mittel
Dieses Bild entstand um 1562 und zählt zu Tintorettos späterem Werk. Während die frühen Bilder sich durch eine skizzenhafte Malweise und düsteres Kolorit auszeichnen, setzte er ab den 1540er Jahren auf effektvolle Lichtzentren, bewegt wirkende Körper und tiefe Bildräume. In Venedig wurde er damit stilbildend für den Manierismus.
Dabei betrachtete Tintoretto die Malerei nicht als künstlerischen Selbstzweck. Er nutzte sie vielmehr als Ausdruck seines Intellekts - und als Mittel, um sich gesellschaftliche Anerkennung zu verschaffen.
"Das Zeitlose an Tintoretto ist, dass er die Kunst nicht einfach als Job begreift, sondern als Passion. Malerei war für ihn ein Mittel zu zeigen, dass es ihn gibt."
Jacopo Tintoretto starb am 31. Mai 1594 im Alter von 75 Jahren. Er hat ein über 500 Bilder umfassendes Werk hinterlassen. Darunter auch Wand- und Deckengemälde für den Dogenpalast. Die Erzählkraft seiner oft vielfigurigen Darstellungen religiöser, allegorischer oder erotischer Szenen hat bis heute nichts von ihrer Wirkung eingebüßt.