Archiv

Vor 60 Jahren
Adenauer verhandelt in Moskau über Kriegsgefangene

Der Besuch sollte historisch werden: Vor 60 Jahren reiste Bundeskanzler Adenauer nach Moskau. Die Russen verlangten die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Bundesrepublik Deutschland. Doch mehr als 10.000 deutsche Kriegsgefangene und Zivilinternierte waren noch in russischen Lagern.

Von Bert Oliver Manig |
    Der sowjetische Ministerpräsident Nikolai Alexandrowitsch Bulganin (l.) und Bundeskanzler Konrad Adenauer (r.) unterzeichnen im September 1955 in Moskau Dokumente: Beide Seiten sind übereingekommen, diplomatische Beziehungen aufzunehmen.
    Der sowjetische Ministerpräsident Nikolai Alexandrowitsch Bulganin (l.) und Bundeskanzler Konrad Adenauer (r.) unterzeichnen im September 1955 in Moskau Dokumente: Beide Seiten sind übereingekommen, diplomatische Beziehungen aufzunehmen. (picture-alliance / dpa)
    Als Bundeskanzler Konrad Adenauer am 8. September 1955 auf Einladung der sowjetischen Regierung nach Moskau reiste, blickte er voller Sorge auf die kommenden Tage. Er hatte sich auf die wenig realistische Linie festgelegt, ein sowjetisches Angebot zur Aufnahme voller diplomatischer Beziehungen abzulehnen, solange die Russen freie Wahlen in der DDR verhinderten und noch deutsche Kriegsgefangene festhielten. Insofern war der protokollarisch hoch angesetzte Empfang mit militärischen Ehren am Flughafen Wnukowo durch seinen Amtskollegen Nikolai Bulganin für den Bundeskanzler kein Grund zu ungetrübter Freude.
    In Adenauers Dankesworten schwang Zurückhaltung mit: "Ich danke Ihnen, Herr Ministerpräsident, für die sehr freundliche Begrüßung, die Sie für mich und die Delegation gefunden haben. Ich hoffe sehr, dass der erste Kontakt, den wir mit unserer Anwesenheit in Moskau aufnehmen, die Herstellung normaler, guter Beziehungen zwischen Deutschland und der Sowjetunion einleitet."
    Um eine bloße erste Kontaktaufnahme ging es der sowjetischen Führung um den Generalsekretär der KPdSU, Nikita Chruschtschow, aber keineswegs. Sie forderte die sofortige Aufnahme voller diplomatischer Beziehungen als Vorbedingung für Fortschritte in den deutsch-sowjetischen Beziehungen.
    Wie abzusehen, liefen sich die Gespräche in Moskau an diesem Punkt rasch fest. Adenauer drohte mit der Abreise der deutschen Delegation, doch dies war ein Bluff. Denn zu hoch war die Erwartung in Deutschland, der Kanzler werde die Freilassung der noch in Russland festgehaltenen Kriegsgefangenen erreichen, als dass er die Verhandlungen aus Prinzipientreue hätte abbrechen können. Adenauer war gewissermaßen in eine Falle getappt.
    Kriegsgefangene als Faustpfand in den Verhandlungen
    Die Russen spielten diesen Vorteil geschickt aus: Sie besaßen mit den deutschen Kriegsgefangenen ein Faustpfand, mit dem sie Adenauer in die Knie zwingen konnten. Ihre hartnäckige Weigerung, die durchweg als "Kriegsverbrecher" verurteilten Gefangenen freizugeben, war vorgetäuscht, denn das Zentralkomitee der KPdSU hatte bereits im Juni 1955 die Entlassung der Gefangenen nach Deutschland beschlossen. Das wusste in der deutschen Delegation damals allerdings niemand.
    Am 12. September standen die Verhandlungen vor dem Abbruch, als Adenauer die Verbrechen der Roten Armee in Deutschland zur Sprache brachte und damit Chruschtschow in Rage versetzte. Geistesgegenwärtig ergriff der zur erweiterten deutschen Delegation gehörende SPD-Abgeordnete Carlo Schmid das Wort:

    "Ich möchte vorausschicken, dass im Namen des deutschen Volkes am russischen Volke Verbrechen begangen worden sind wie vielleicht noch nie in der Weltgeschichte. Ich rufe darum nicht die Gerechtigkeit an, sondern die Großherzigkeit des russischen Volkes. Und wenn ich das tue, denke ich in erster Linie nicht an die Menschen, die noch hier zurückgehalten werden, sondern an ihre Frauen, an ihre Kinder, an ihre Eltern. Lassen Sie Gnade walten und lassen Sie diese Menschen zurückkehren zu denen, die auf sie warten – die seit mehr als zehn Jahren auf sie warten."
    Der SPD-Abgeordnete Carlo Schmid traf den richtigen Ton

    Damit hatte Schmid den richtigen Ton getroffen. Chruschtschow und Bulganin waren nun bereit, Milde walten zu lassen: Sie gaben Adenauer ihr Ehrenwort, dass 9626 Kriegsgefangene und eine größere Zahl von Zivilinternierten umgehend nach Deutschland zurückkehren würden, wenn der Bundeskanzler in die Aufnahme diplomatischer Beziehungen einwilligte und außerdem zusagte, dass Ermittlungen der deutschen Justiz gegen 450 der Überstellten, darunter auch KZ-Aufseher, aufgenommen würden. Am 13. September gab Adenauer nach und erklärte sich zu einem Botschafteraustausch bereit – um den außenpolitischen Schaden zu begrenzen, übergab man der sowjetischen Regierung einen Brief, in dem der Bonner Alleinvertretungsanspruch und ein Rechtsvorbehalt im Hinblick auf die deutsche Ostgrenze geltend gemacht wurden.
    Innenpolitisch war Adenauer der Gewinner der Moskauer Reise. Seine Popularitätswerte erreichten nie gekannte Höhen, seine Ankunft am Kölner Flughafen am 14. September wurde als Triumph inszeniert. Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier war der erste Gratulant:

    "Herr Bundeskanzler, ich bin sicher, im Namen des ganzen deutschen Volkes zu sprechen, wenn ich Ihnen als Präsident des Deutschen Bundestages den herzlichen Glückwunsch und den Dank des deutschen Volkes dafür ausspreche, dass Sie die Kriegsgefangenenfrage im Osten glücklich gelöst haben. Wir danken Ihnen!"