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Vor 60 Jahren
Der Aufstand der Tibeter

Es begann als ein großer Aufstand gegen die chinesische Besatzung – und endete in einem Blutbad. Am 10. März 1959 demonstrierten Zehntausende Menschen in Tibet, um einen vermeintlichen Komplott Chinas zu durchkreuzen. Die chinesische Armee reagierte mit voller Härte – und der Dalai Lama musste fliehen.

Von Ruth Kirchner |
    Tenzin Gyatso, der 14. Dalai Lama, bei seiner Flucht aus Tibet ins Exil nach Indien.
    Tenzin Gyatso, der 14. Dalai Lama, bei seiner Flucht aus Tibet ins Exil nach Indien. (imago/biky)
    Kein anderer Tag prägt das Selbstverständnis der Tibeter so wie der 10. März 1959. Der Dalai Lama, bis 2011 nicht nur religiöses, sondern auch politisches Oberhaupt im Exil, wies jahrzehntelang jedes Jahr darauf hin:
    "An diesem Gedenktag erinnern wir daran, dass wir für eine gerechte Sache kämpfen. Aus spiritueller Sicht ist es wichtig, mit einem guten Herzen zu denken und zu handeln. Aus konventioneller, weltlicher Sicht geht um Gerechtigkeit und Wahrheit."
    Für ihn selbst hatte der 10. März 1959 zunächst weitgehend normal begonnen: Tenzin Gyatso, der 14. Dalai Lama, hatte in seiner Residenz Norbulingka im Westen Lhasas kurz nach fünf Uhr mit seinen Morgengebeten begonnen.
    Am Nachmittag sollte der damals 23-Jährige einer Theateraufführung im Hauptquartier der chinesischen Volksbefreiungsarmee außerhalb Lhasas beiwohnen – auf Drängen der Chinesen allerdings ohne Leibwächter und die sonst üblichen öffentlichen Zeremonien für den Gottkönig. Seit Tagen war über den Besuch verhandelt worden.
    Zehntausend Menschen demonstrierten vor dem Palast
    Denn das Klima zwischen der tibetischen Regierung und der chinesischen Armee war angespannt: Acht Jahre zuvor war China in Tibet einmarschiert und der Widerstand gegen die Besatzer war kontinuierlich gewachsen – in den Regionen Kham und Amdo im Osten hatte es schwere bewaffnete Aufstände gegeben, die die Chinesen niederschlugen. Peking drohte auch in Lhasa mit einer härteren Gangart.
    Viele Menschen witterten daher ein Komplott. Ein Zeitzeuge – befragt vom kalifornischen Tibet-Oral-History-Projekt - erinnert sich:
    "Wenn seine Heiligkeit zum Armeelager gegangen wäre, hätten ihm die Chinesen etwas angetan. Daher versammelten sich die Menschen, um ihn daran zu hindern und ihn aufzufordern, im Norbulingka-Palast zu bleiben. Unsere Leute wussten – die Chinesen hätten ihn getötet oder verhaftet und mitgenommen."
    Zeitzeugen sprechen von über zehntausend Menschen vor dem Palast. Die Stimmung war aufgeheizt, schlug in sporadische Gewalt um; ein vermeintlicher chinesischer Spion wurde von der Menge gelyncht, die Forderungen der Demonstranten wurden zunehmend radikaler.
    "Sie riefen ‚Tibet ist ein unabhängiges Land. ,Chinesen raus aus Tibet!‘"
    Von Blut rot gefärbte Flussufer
    Verhandlungen zwischen der tibetischen Regierung und den Demonstranten sollten die Lage beruhigen; der Besuch des Dalai Lama im Militärcamp wurde abgesagt. Die chinesische Seite aber begann ihre Truppen in Alarmbereitschaft zu versetzen. War der Zeitpunkt gekommen, den von Mao propagierten "Befreiungskrieg" jetzt nach Tibet zu tragen, um das rohstoffreiche Hochplateau vollständig unter Kontrolle zu bringen? In einem Telegramm der örtlichen Kommunistischen Parteiführung an die Zentrale in Peking hieß es:
    "Das tibetische Volk hat sich offiziell am 10. März erhoben. Sie haben ihre Verbindungen zum Zentralkomitee (der Kommunistischen Partei) gekappt und sind im Kampf für die Unabhängigkeit zu allem entschlossen."
    Ein von der tibetischen Führung organisierter Aufstand – diese Interpretation entsprach nicht den Tatsachen, legte aber den Grundstein für die dramatische Eskalation der nächsten Tage. Zunächst gingen die Demonstrationen weiter. Die tibetische Führung suchte eine Verhandlungslösung mit den Demonstranten und den Chinesen; der Dalai Lama mahnte zur Besonnenheit.
    Die chinesische Armee aber holte Verstärkung aus den umliegenden Provinzen. In der chinesischen Propaganda – wie in diesem vermeintlichen Dokumentarfilm – heißt es, "reaktionäre tibetische Rebellen" hätten schließlich die ersten Kämpfe in Lhasa ausgelöst. Unabhängige Quellen sprechen von chinesischen Artillerie-Angriffen - eine Woche nach den ersten Demonstrationen, also am 17. März 1959.
    Der Dalai Lama verließ noch in derselben Nacht mit rund 100 Gefolgsleuten die Stadt und floh Richtung Indien. Kurz darauf begann die Schlacht um Lhasa. Doch gegen die Übermacht der Volksbefreiungsarmee hatten die tibetischen Kämpfer keine Chance. Das Flussufer südlich des Norbulingka-Palastes war rot gefärbt vom Blut, heißt es in Zeitzeugenberichten.
    Drei Tage später hatte die Armee die Stadt unter Kontrolle. Was als Protest-Demonstration begonnen hatte, mündete in Tod und Zerstörung weit über Lhasa hinaus. In den 20 Monaten nach dem Aufstand kamen bei der so genannten Befriedung Tibets rund 87.000 Tibeter ums Leben.