"Tanger wird die weiße Taube auf der Schulter Afrikas genannt. Die Häuser Tangers sind überwiegend weiß gestrichen, nicht purpurrot wie in Marrakesch, nicht himmelblau wie in Ifren. Weiß ist die Grundfarbe des bunten Tanger."
So beschreibt Jalid Sehouli in seinem Buch "Und von Tanger fahren die Boote nach irgendwo" die Heimatstadt seiner Eltern, die 1960 nach Berlin geflüchtet waren. Er ist nicht der einzige Autor, den dieser märchenhafte Ort an der Meerenge von Gibraltar mit seinem mediterranen Flair verzaubert hat. Truman Capote empfahl in seinen Reise-Reportagen, sich, bevor man nach Tanger fahre, lieber von seinen Freunden zu verabschieden. Man könne nie wissen, ob man nicht dort bliebe, da es die Menschen festhalte. So wie den amerikanischen Schriftsteller Paul Bowles zum Beispiel, der Tanger einen magischen Ort nannte und dem er mit seinem Roman "Der Himmel über der Wüste" zu internationaler Bekanntheit verhalf.
Viele Menschen waren fasziniert von der Weltoffenheit der Internationalen Zone von Tanger, die 1923 ausgerufen worden war. Über 30 Jahre wurde die Hafenstadt multinational verwaltet. Zeitweise übten acht Mächte Hoheitsrechte in dieser Enklave aus. Sie war abgetrennt von ihrem marokkanischen Hinterland, das damals zum französischen Kolonialreich gehörte. Ein Eldorado für Weltenbummler, aber auch Schmuggler, Zuhälter und Sextouristen. Mohamed Choukri, der bedeutendste marokkanische Literat, erlebte in seiner Kindheit Tanger als einen von Gewalt und Spannungen geprägten Schmelztiegel der Kulturen:
"Wenn ein Marokkaner sich auch nur das Geringste zuschulden kommen ließ, wurde er hart bestraft. Bei einer Razzia wurden niemals Europäer oder Amerikaner festgenommen, stets waren die Einheimischen dran, die ihre Papiere vergessen hatten, oder was weiß ich. Es war reiner Kolonialismus. (…) Ich musste nachts auf dem Friedhof schlafen, um mich nicht ausweisen zu müssen, weil ich keine Papiere hatte. Wir waren Entwurzelte im eigenen Land."
Im Zweiten Weltkrieg wurde Tanger zwischenzeitlich von Spanien besetzt, aber 1945 gaben die Siegermächte der Stadt den Status der internationalen Zone zurück.
"Tanger ist das einzige Gebiet der Welt, das von jedem Staatsangehörigen ohne irgendwelche Formalitäten betreten werden kann", berichtete im Mai 1949 das Nachrichtenmagazin "der Spiegel". "Hier sind sie alle sicher: schon halbvergessene Achsen-Kriegsverbrecher, die ganz öffentlich über die Boulevards promenieren; spanische Monarchisten, Anarchisten und Linksrepublikaner, oder südamerikanische Staatsmänner, die gerade wieder einmal gestürzt wurden."
In den 50er-Jahren entdeckten exzentrische Millionäre, Homosexuelle und Künstler Tanger für sich, auch, weil dort schon damals Drogen problemlos zu bekommen waren. Von den etwa 150.000 Einwohnern waren jetzt nur noch die Hälfte Marokkaner. Für diese Einheimischen hätten sich die ausländischen Schriftsteller nie ernsthaft interessiert, betonte Mohamed Choukri später.
"Wer kannte damals in Marokko schon Gregory Corso, Alan Ginsberg, William Burroughs oder Alberto Moravia und wusste, dass sie in der Stadt waren? Auch heute interessieren sich nur wenige dafür, dass auch Samuel Beckett, Jean Genet oder Tennessee Williams in Tanger lebten. Für die Marokkaner waren es nur Fremde, die herkamen und wieder weggingen, wie heute die Touristen."
Und sie verschwanden, nachdem zuerst Marokko seine Unabhängigkeit wiedererlangte und am 29. Oktober 1956 die internationale Zone von Tanger dem marokkanischen Königreich angegliedert wurde. Auch die reichen Geschäftsleute zogen ab. Banken und Briefkastenfirmen verlegten ihre Sitze in andere Steuerparadiese und der ehemalige Sehnsuchtsort verfiel zusehends.
Erst König Mohamed VI., der 1999 den Thron bestieg, begann, Tanger wieder zu sanieren und ließ einen modernen Container-Hafen errichten. Nach seinen Plänen soll die Stadt, die europäische Mächte einst als "Tor zu Afrika bezeichneten", nun Marokkos Brücke nach Europa werden.