Aus einem Hauseingang im West-Berliner Stadtteil Steglitz tritt am Abend des 16. Juni 1961 ein schmächtiger Mann um die Fünfzig. Plötzlich greift er sich mit der Hand an die Brust, krampft, knickt in den Knien ein und sinkt auf die Straße. Es ist Heinz Brandt, Redakteur und Gewerkschafter der IG-Metall. Er ist von Frankfurt nach Berlin geflogen, um Gespräche mit Publizisten wie Jakob Moneta oder Ossip K. Flechtheim zu führen. Bei den Flechtheims trifft er nie ein:
"Mir ist in West-Berlin bei einer Familie, deren Name der Polizei bekannt ist, von einer Bekannten als Abschiedstrunk ein Glas Whiskey angeboten worden, in dem sich, wie sich gleich herausstellen sollte, ein Betäubungsmittel befand."
Das Gift der Stasi wirkte schnell
Als Brandt von seiner Entführung erzählt, ist er, drei Jahre später, gerade wieder freigelassen worden. Die Familie des Fotografen Hellmuth Ast, die er erwähnt, hatte nur Stunden nach der Tat West-Berlin in Richtung DDR verlassen. Ast war Mitarbeiter der DDR-Staatssicherheit, ebenso wie die erwähnte "Bekannte" Eva Walter, Brandts Geliebte. Das Gift der Stasi wirkte schnell.
"Ich kam erst in dem so genannten zentralen Untersuchungsgebäude der Staatssicherheit in Berlin-Hohenschönhausen, in das ich verschleppt worden war, wieder völlig zu mir."
Glaube an einen nichtttotalitären Kommunismus
Die Stasi hielt ihn für einen Spion – aus ihrer Sicht nicht ganz zu Unrecht. Heinz Brandt hatte die DDR bis zu seiner Flucht 1958 mitaufgebaut. Er war Propaganda-Sekretär der SED in Berlin gewesen. Geschockt von den Vorgängen des 17. Juni 1953, hatte er Kontakt mit dem sogenannten Ostbüro der SPD aufgenommen, das illegal in der DDR arbeitete. Hier berichtete er über oppositionelle Strömungen – stets mit dem Ziel, eine Verständigung zu finden. Denn Heinz Brandt war überzeugter Kommunist, der an einen dritten, nicht-totalitären und demokratischen Mittelweg glaubte. Selbst das Oberste Gericht der DDR kam 1962 nicht umhin, gute Absichten und damit mildernde Umstände anzuerkennen:
"Ausgangspunkt des vom Angeklagten begangenen Verbrechens war nicht eine offene Feindschaft gegenüber der Entwicklung im Osten Deutschlands, sondern seine irrigen Vorstellungen von der Möglichkeit einer Versöhnung der antagonistischen Klassengegensätze, die ihn zu einem Verbrecher werden ließen."
Brandt wurde zu 13 statt 15 Jahren Haft verurteilt, die er in einer Isolationszelle im Stasi-Gefängnis in Bautzen zu verbüßen hatte. Dort notierte er: "Manchmal schrecke ich des Nachts mit einem Entsetzensschrei auf: Ich habe in der Bautzener Zelle vom KZ geträumt. Kein schönes Erwachen."
Dass der Widerstandskämpfer Auschwitz und Buchenwald überlebt hatte, interessierte die DDR-Justiz nicht
Dass Brandt in der KPD Widerstand gegen den Nationalsozialismus geleistet und die Lager Auschwitz und Buchenwald überlebt hatte, spielte für die DDR-Justiz keine Rolle. Für Ulbricht war er ein Abtrünniger, der schon in der Weimarer Republik auf der falschen Seite gestanden hatte, als er als sogenannter Versöhnler für eine Einheitsfront der KPD mit der SPD eingetreten war. In den Verhören weigerte er sich zu behaupten, dass er freiwillig in die DDR zurückgekehrt sei, angewidert von den angeblichen Kriegsvorbereitungen Adenauers. Stattdessen diskutierte er politisch mit seinen Peinigern – und bestritt nie, DDR-Gesetze verletzt zu haben.
Solidaritäts-Bekundungen aus aller Welt
Noch während er als verschwunden galt, initiierten Unterstützer auf der ganzen Welt eine Freilassungskampagne. Linke und linksliberale Intellektuelle wie Erich Fromm und Erich Fried setzten sich für ihn ein, aber auch ehemalige Auschwitzhäftlinge, internationale Gewerkschafter und Jugendverbände. Der sozialdemokratische Politiker Herbert Tulatz erinnerte die DDR daran, dass nun die Welt zusah:
"Die vielen Gewerkschaftsführer aus Asien, Lateinamerika, Afrika werden hier in Berlin durch das Beispiel Heinz Brandt und durch den Anblick der Mauer demonstriert bekommen, was hinter dieser angeblich völkerbefreienden und die Arbeiterklasse befreienden Kraft steckt, nämlich die krasse Diktatur einer Bürokratie."
Wieder frei, wandte sich Brandt gegen jeden Antikommunismus
Die Kampagne blieb nicht ohne Wirkung. Die DDR fürchtete um ihr internationales Renommee und ließ Brandt nach drei Jahren Einzelhaft plötzlich ausreisen.
Trotz seiner Erfahrungen wandte sich Brandt auch nach seiner Freilassung gegen jede Art von Antikommunismus und Lagerdenken. In seiner Begnadigung sah er – nicht ohne Wunschdenken - ein Zeichen für ein anbrechendes Tauwetter zwischen den Blöcken - das in Wirklichkeit noch lange auf sich warten ließ. 1986 starb Heinz Brandt in Frankfurt am Main.