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Vor 65 Jahren
Das "Deutsche Manifest" gegen die Wiederbewaffnung

Vor 65 Jahren trat die Bundesrepublik der NATO bei. Angesichts des sich anbahnenden Ost-West-Konflikts formulierten oppositionelle Kräfte am 29. Januar 1955 in einem „Deutschen Manifest“ ihre Bedenken gegen die Wiederbewaffnung - die Schrecken des Zweiten Weltkrieges waren noch allgegenwärtig.

Von Wolfgang Stenke |
    Die Teilnehmer erteilen durch Handzeichen ihre Zustimmung zum Deutschen Manifest. Der historische Saal der Frankfurter Paulskirche war am 29.01.1955 während der Protestkundgebung mit den Flaggen aller deutschen Länder geschmückt. Auf Initiative der SPD und des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) hatten sich Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens eingefunden, um gegen die Ratifizierung der Pariser Verträge zu protestieren. Zum Schluss der Kundgebung nahmen sie einstimmig ein Manifest ("Deutsches Manifest") an, in dem Volk und Regierung zum Widerstand gegen die sich immer stärker werdende Tendenz zur Spaltung Deutschland aufgerufen wurden.
    Der 29. Januar 1955 – Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens protestieren gegen die Ratifizierung der Pariser Verträge. Zum Schluss der Kundgebung nahmen sie einstimmig das "Deutsche Manifest" an (dpa - Bildarchiv / Richard Kroll)
    "Wer militärische Blockbindung betreibt, kann dabei die Wiedervereinigung wohl vielfältig im Munde führen, aber er verhindert sie zugleich."
    Das sagte Gustav Heinemann, der spätere Bundespräsident, in der Frankfurter Paulskirche, unter Applaus. Gemeinsam mit ihm, der schon 1950 aus Protest gegen Adenauers Politik der Wiederbewaffnung als Innenminister zurückgetreten war und zwei Jahre später die CDU verlassen hatte, kritisierten mehr als 1.000 Teilnehmer einer Kundgebung am 29. Januar 1955 den geplanten NATO-Beitritt der Bundesrepublik, der durch die Ratifizierung der Pariser Verträge vollzogen werden sollte.
    Angst vor deutscher Teilung
    "Niemand von uns nimmt die Krise leicht, die durch Ablehnung der Pariser Verträge entstehen wird. Aber diese Krise erscheint uns als das kleinere Unglück im Vergleich zu der Katastrophe, die eine Versteinerung der deutschen Teilung auf unabsehbare Zeit für uns und für Europa bedeuten wird."
    Heinemann, damals noch Mitglied der Gesamtdeutschen Volkspartei, trat auf einer Protestveranstaltung auf, zu der die SPD, der Deutsche Gewerkschaftsbund, evangelische und katholische Christen und etliche Intellektuelle, darunter der Soziologe Alfred Weber, geladen hatten. Die Rüstungsgegner befürchteten, die Integration der beiden deutschen Teilstaaten in je ein westliches und ein östliches Militärbündnis werde den Kalten Krieg weiter anheizen. Per Handzeichen stimmten sie für ein "Deutsches Manifest".
    "Die Aufstellung deutscher Streitkräfte in der Bundesrepublik und in der Sowjetzone muss die Chancen der Wiedervereinigung für unabsehbare Zeit auslöschen und die Spannung zwischen Ost und West verstärken. Die Verständigung über eine Viermächtevereinbarung zur Wiedervereinigung muss vor der militärischen Blockbildung den Vorrang haben."
    Protest gegen Adenauers Westbindung
    Der Protest, den die Versammlung an diesem Januarsamstag am symbolträchtigen Ort der Paulskirche vortrug, entsprach einer weitverbreiteten Haltung. Nur wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs reagierten viele Deutsche ablehnend auf die Remilitarisierung, die mit Adenauers Politik der Westintegration einherging.
    "Wenn man wie ich seinen Mann und seinen einzigen Bruder im Krieg verloren hat und nun mit seinen drei Kindern allein in der Welt steht, will man von Wiederaufrüstung oder dergleichen nichts mehr hören."
    "Ohne mich" hieß die Parole der Rüstungsgegner. Die Frankfurter Kundgebung war der Auftakt zu einer Welle von Demonstrationen in der ganzen Bundesrepublik. Rund 250.000 Menschen unterzeichneten das "Deutsche Manifest" allein in Bayern. Ob in Freiburg, Kassel, Düsseldorf, Hannover oder Hamburg – überall versammelten sich Menschen im Januar und Februar 1955 zu Mahnwachen und Protestaktionen. – Bundeskanzler Adenauer spottete.
    "Die Vorgänge in der Paulskirche, die kamen mir doch so vor – man muss manchmal, das ist überzeugender, in Gleichnissen sprechen, meine Damen und Herren –, sie kamen mir vor wie ein rotes Gericht, das mit einigen grünen Salatblättern verziert war."
    Das Endes des Besatzungsregimes im Westen
    Adenauer sah durch die Proteste sein Werk in Frage gestellt: Die Pariser Verträge, die er den drei Westmächten im Oktober 1954 abgerungen hatte. Das Abkommen beendete das Besatzungsregime im Westen und gab der Bundesrepublik fast vollständige Souveränität. Als gleichberechtigter Staat konnte sie Mitglied des Bündnissystems der Westeuropäischen Union und des Nordatlantikpaktes werden.
    Freilich bedeutete das eine große militärische Kraftanstrengung: die Aufstellung von zwölf Bundeswehr-Divisionen unter dem Oberkommando der NATO. Die außerparlamentarische Mobilisierung gegen das Vertragspaket änderte nichts an den Mehrheitsverhältnissen in Bonn: Am 27. Februar 1955 stimmte der Bundestag zu. 314 Ja-Stimmen der Regierungsparteien standen gegen 157 Nein-Stimmen, die vorwiegend aus den Reihen der SPD kamen.
    Infolgedessen wurde die Bundesrepublik am 9. Mai 1955 Mitglied der NATO. Fünf Tage später gründete die Sowjetunion mit ihren Satellitenstaaten, darunter die DDR, den Warschauer Pakt.