Wien, Heldenplatz. Tausende von Touristen streben von der Hofburg zur Ringstraße oder von der Ringstraße zur Hofburg. Den großen barocken Prachtbau, der das riesige Areal seitlich einfasst, beachten viele gar nicht - es ist eh schon alles so prachtvoll hier. Ein Blick in den Fremdenführer: aha, die österreichische Nationalbibliothek. Geplant von einem der bedeutendsten Barockarchitekten: Johann Bernhard Fischer von Erlach. Hier wird die Kostbarkeit aufbewahrt, die 1368 im Auftrag eines Habsburgers vollendet wurde und als Gründungskodex der Bibliothek gilt: die Evangeliensammlung des Priesters Johannes von Troppau, farbenprächtig illustriert und geschrieben in goldener Tinte.
Michaela Pfundner, Leiterin der Bilddokumentation der Nationalbibliothek: "Das sind insgesamt fünf Löwenköpfe, diese vier äußeren Löwenköpfe symbolisieren die vier Evangelisten, und der ein bisschen größere Löwenkopf ist Jesus Christus."
Im Inneren ihres barocken Erscheinungsbilds haben auch in der Wiener Nationalbibliothek die praktikablen Ambientes Einzug gehalten. Sie muss ja beides sein: Moderner Dienstleistungsbetrieb und Museum. Digitaler Gedächtnisort mit Quick Search - und Hüterin des ältesten Zettelkatalogs der Welt von 1780. Für das Museale, für das Erinnern und Bewahren, steht der schwelgerisch freskengeschmückte Prunksaal, der nach seiner Vollendung lange Zeit die ganze Hofbibliothek fasste: außer den Büchern auch Musikalien, historische Dokumente, Landkarten und Globen, Autographen, Kuriosa - eben alles, was das Habsburgerherz schon seit Jahrhunderten begehrt und gesammelt hatte.
Evangeliar und andere unschätzbare Kostbarkeiten
Hoch auf seinem Podest sitzt hier der Kaiser, der den Bau 1723 in Auftrag gab. Auch ein Habsburger, mit einem Faible für die Bildung.
"Das war, glaube ich, auch der Plan von Karl VI., der steinerne Herr da in der Mitte, der diesen Bibliotheksraum initiiert hat, und der auch gesagt hat, jeder, der lesen kann, soll die Möglichkeit haben dazu", sagt Pfundner.
Das waren im frühen 18. Jahrhundert ja noch nicht allzu viele. Karls Tochter Maria Theresia ging mit der Einführung der Schulpflicht schon einen Schritt weiter zu einer wirklich öffentlichen Bibliothek.
Michaela Pfundner: "Das richtige Lesen von jedem, der kann, ist dann wirklich erst mit der Einrichtung dieses Augustinerlesesaals 1906."
Das Evangeliar und andere unschätzbare Kostbarkeiten erzählen die Geschichte einer großen europäischen Bibliothek: von ihren feudalen Anfängen, vom Prestigegewinn, den die Anschaffung kostbarer Gegenstände regierenden und nichtregierenden Fürsten einbrachte; aber auch von ihrer genuinen Sammelleidenschaft, vom Kunstsinn einzelner Herrscher und von ihrer mit den Entdeckungen der Neuzeit wachsenden Welt- und Wissenschaftsneugier.
"Warum haben wir eine große Papyrussammlung? Das ist das Interesse eines Habsburgers gewesen. Der Vor-Vorgänger von Franz Josef, also Franz I., der ist ja ein großer Blumenliebhaber, ein großer Tierliebhaber und Botaniker. Also das heißt, der beauftragt Maler, aus seinen Gewächshäusern die Pflanzen zu zeichnen, zu malen. Und das sind ja exotische Pflanzen."
Skurrile Fundstücke
In den Hobbys der Erlauchten spiegeln sich Wissenschafts-, Expeditions- und Kolonialgeschichte. Aber auch die so abergläubische wie pseudowissenschaftliche Wertschätzung skurriler Fundstücke, zum Beispiel einer legendenumwobenen Gift- und Heilpflanze:
"Das sind diese beiden Alraunen, wenn man sie in Wein einlegt, dann entwickeln sie ihre Zauberkräfte", sagt Pfundner.
Die alten Alraunen gehören zu den zwölf Exponaten, die die Nationalbibliothek zur Feier des Jubiläumsjahres ans Licht der Öffentlichkeit bringt - jeden Monat ein Objekt aus dem schier unendlichen Fundus. Besonders stolzer Besitz ist Mozarts Originalhandschrift seines Requiems.
Michaela Pfundner: "Dann kommt das Requiem, dann kommt die Gutenberg-Bibel, dann eine berühmte Karte von Waldseemüller, dann ein sehr frühes Foto von der Stadterweiterung, ein sehr frühes Foto aus dem Jahr 1858, dann eine Manuskriptseite von Ingeborg Bachmann, dann auch eine Handschrift über die Gegengifte, ein Buch der Gegengifte..."
Mit dem Evangeliar des Johannes von Troppau hat die festliche Zeitreise durch die Bibliotheksschätze im Januar dieses Jahres begonnen. Im Januar 2019 wird sie zum Abschluss noch einmal ausgestellt - mit dem Ausblick auf ein weiteres Jubiläum: Am Ende des Jahres 1919 wurde die kaiserliche Hofbibliothek vom neuen Staat Österreich übernommen. Das Reich der Habsburger war ja gerade untergegangen.