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Vor 70 Jahren
Als Bertolt Brecht den "Offenen Brief an die deutschen Künstler und Schriftsteller" verfasste

Angesichts der Anzeichen einer Remilitarisierung der jungen Bundesrepublik warnte der Dichter Bertolt Brecht, der sich für die DDR entschieden hatte, vor einem Dritten Weltkrieg - und richtete am 26. September 1951 einen mahnenden "Brief an die deutschen Künstler und Schriftsteller".

Von Christoph Vormweg |
    Eine schwarz-weiß-Fotografie zeigt Bertolt Brecht und Johannes R. Becher, wie sie 1954 gemeinsam durch ein Hotelzimmer laufen.
    Bertolt Brecht (links) und Johannes R. Becher 1954 - zwei maßgebliche Intellektuelle der frühen DDR (picture-alliance / dpa | Bratke)
    "Das große Karthago führte drei Kriege. Es war noch mächtig nach dem ersten, noch bewohnbar nach dem zweiten. Es war nicht mehr auffindbar nach dem dritten."
    Die berühmten Schlusssätze von Bertolt Brechts offenem Brief "an die deutschen Künstler und Schriftsteller." Die Botschaft ist überdeutlich: Einen dritten Weltkrieg wird Deutschland nach der gerade vollzogenen Teilung nicht überstehen. Die DDR-Tageszeitung "Neues Deutschland" druckt Bertolt Brechts "offenen Brief" auf der ersten Seite ab. Und er wird in tausenden Exemplaren als Flugschrift verteilt - mit dem Aufdruck: "Senden Sie diesen Brief an Ihre Bekannten in Westdeutschland." "Die Wirkung war ungeheuer", so Werner Mittenzwei in seiner 1986 in Ost-Berlin erschienenen Brecht-Biografie:
    "Die Schlusssätze sagten sich die Leute auf der Straße. Die Reden, die in den folgenden Wochen gehalten wurden, endeten mit dem Zitieren der Brechtschen Sätze von dem großen Karthago, das drei Kriege führte."

    Reaktion auf bundesdeutsche Wiederbewaffnung

    "Werden wir Krieg haben?", fragt Brecht und liefert gleich die Antwort: "Wenn wir zum Krieg rüsten, werden wir Krieg haben. Werden Deutsche auf Deutsche schießen? Die Antwort: Wenn sie nicht miteinander sprechen, werden sie aufeinander schießen."
    Anlass für Brechts Worte sind die ersten Anzeichen für eine Remilitarisierung der jungen Bundesrepublik. Vor ihr hat DDR-Ministerpräsident Otto Grotewohl in einer Regierungserklärung mit einem Appell an den Bundestag in Bonn gewarnt, gesamtdeutsche Beratungen aufzunehmen. Grotewohls Ziel: "die Vereinigung des Landes (...) ein demokratisches und friedliebendes Deutschland."
    Die Teilnehmer erteilen durch Handzeichen ihre Zustimmung zum Deutschen Manifest. Der historische Saal der Frankfurter Paulskirche war am 29.01.1955 während der Protestkundgebung mit den Flaggen aller deutschen Länder geschmückt. Auf Initiative der SPD und des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) hatten sich Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens eingefunden, um gegen die Ratifizierung der Pariser Verträge zu protestieren. Zum Schluss der Kundgebung nahmen sie einstimmig ein Manifest ("Deutsches Manifest") an, in dem Volk und Regierung zum Widerstand gegen die sich immer stärker werdende Tendenz zur Spaltung Deutschland aufgerufen wurden. 
    Vor 65 Jahren - Das "Deutsche Manifest" gegen die Wiederbewaffnung
    1955 trat die Bundesrepublik der NATO bei. Angesichts des sich anbahnenden Ost-West-Konflikts formulierten oppositionelle Kräfte am 29. Januar 1955 in einem "Deutschen Manifest" ihre Bedenken gegen die Wiederbewaffnung – die Schrecken des Zweiten Weltkrieges waren noch allgegenwärtig.

    War da Ironie im Spiel?

    Hinter der Regierung in Bonn stehen die Machtinteressen der USA, hinter der in Ost-Berlin, die der Sowjetunion. Brecht macht fünf Vorschläge. Er fordert "völlige Freiheit" des Buches, des Theaters, der bildenden Kunst, der Musik und des Films - jeweils mit einer Einschränkung:
    "Keine Freiheit für Schriften und Kunstwerke, welche den Krieg verherrlichen oder als unvermeidbar hinstellen und für solche, welche den Völkerhass fördern."

    Rasche Reaktionen der Westpresse

    Ist da Ironie im Spiel? Von einer "völligen Freiheit" der Künste kann in der jungen DDR nicht die Rede sein. Die Zensoren achten genau auf die Folgsamkeit der sozialistischen Kulturschaffenden. Und natürlich reagiert auch die Westpresse auf den am 27. September 1951 veröffentlichten "offenen Brief an die deutschen Künstler und Schriftsteller". Zustimmende Reaktionen kommen vom Verleger Ernst Rowohlt und aus dem Lager der Pazifisten. Die zum Axel-Springer-Verlag gehörende Tageszeitung "Die Welt" kontert mit dem Schriftsteller Stefan Andres. Er nennt Bertolt Brechts Forderungen "gut stilisierte, aber doch empörend überflüssige Ermahnungen".

    "Kriegshetzer" vernichten, "so gut man sie vernichten kann."

    Die Warnungen, die Brecht formuliert, sind zeitlos. Umso erstaunlicher ist, dass der weltberühmte Dichter und Dramatiker dem DDR-Staatslenker Walter Ulbricht während der Niederschlagung des Aufstands vom 17. Juni 1953 eine Solidarisierungsadresse schickt. Auch schlägt er Ende 1954 während einer öffentlichen Diskussion in West-Berlin an der Seite von DDR-Kulturminister Johannes R. Becher harsche Töne an. Denn es sind erklärte Anti-Kommunisten im Saal. Brecht sagt, er "halte es für vollständig wertlos, mit Kriegshetzern zu diskutieren. (…) Das sind Feinde der Menschheit. Und sie müssen vernichtet werden, so gut man sie vernichten kann. Sonst kann die Menschheit nicht weiter existieren. Das ist im Namen der Humanität absolut notwendig."
    Buchcover: Stephen Parker: "Bertolt Brecht. Eine Biografie"
    Stephen Parker: "Bertolt Brecht. Eine Biografie" - Der Wasser-Feuer-Mann
    Brechts "chronische Herzinsuffizienz" war Ursache seiner bislang unterschätzten hohen Sensibilität. Ohne sie sei sein Werk nicht zu verstehen, meint der britische Germanist Stephen Parker. Er macht Brechts Überempfindlichkeit zum Leitbild einer Lebensdarstellung.
    Brecht sei immer der Überzeugung geblieben, dass ein Schriftsteller unabhängig zu sein habe, sagte Brecht-Forscher Werner Hecht 2014 dem "Tagesspiegel". "Allerdings hat er als Provokation oft spontan Sachen gesagt, die nichts mit einer ernsthaften Willenserklärung zu tun hatten."

    Brechts Leiden am Niedergang der Dialektik

    Denn als Dramatiker ist der Friedens-Mahner des "offenen Briefs an die deutschen Künstler und Schriftsteller" immer ein Verfechter der Dialektik, die den Zuschauer über Gegensätze belehren soll. Mit ihr will er den Stalinismus ausbremsen. Doch in der DDR verkümmert die Dialektik, worunter Bertolt Brecht, Leiter des berühmten Berliner Ensembles, bis zu seinem Tod leidet.