"Liebe deutsche Mit-Landsleute, liebe Frankfurter Mitbürger! Unsere Stadt Frankfurt hat die Nachricht, dass sie zur Bundeshauptstadt gewählt wurde, keineswegs mit dem Gefühl irgendeines Triumphes gegenüber anderen deutschen Städten, die gleichfalls zur Wahl standen, aufgenommen."
Walter Kolb, Oberbürgermeister von Frankfurt am Main, hatte sich zu früh gefreut. Am 10. Mai 1949, einen Tag nach der Aufnahme, war seine Dankesrede schon Makulatur. Der CDU-Vorsitzende Konrad Adenauer verkündete das Abstimmungsergebnis des Parlamentarischen Rates kurz vor Mitternacht:
"Das Ergebnis der Abstimmung ist folgendes: Es waren abgegeben 63 Stimmzettel, davon war einer unbeschrieben, also ungültig, so dass 62 gültige Stimmzettel abgegeben waren. Die absolute Mehrheit beträgt demnach 32. Es haben erhalten Bonn 33, Frankfurt 29."
Frankfurt fühlt sich düpiert
Eine echte Überraschung. Bewerber wie Kassel, Stuttgart oder Bamberg mussten schon im Vorfeld ausscheiden. Das war ebenso abzusehen wie die Ablehnung einiger abstruser Ideen. So hatte etwa der angesehene Sozialdemokrat Carlo Schmid allen Ernstes ein vorwiegend aus Baracken bestehendes Provisorium irgendwo an der Grenze zur sowjetischen Besatzungszone ins Gespräch gebracht.
Das ging seinen Kollegen denn doch zu weit – bei allem Einverständnis darüber, eine endgültige Entscheidung über den künftigen Regierungssitz offen zu halten. Dabei hatte eigentlich alles für Frankfurt am Main gesprochen; Oberbürgermeister Kolb hatte Recht, als er in seiner voreiligen Dankesrede ausführte:
"Da nun einmal hier in Frankfurt fast alle Einrichtungen bereits geschaffen sind, die eine Bundeshauptstadt benötigt, und außerdem diese Bundeshauptstadt so außerordentlich verkehrsgünstig gelegen ist, konnten es weite Kreise nicht verstehen, dass diese Wahl so viel Kopfzerbrechen verursachte."
200 zu 176 Stimmen – drei Enthaltungen, elf ungültige Stimmen
Das Kopfzerbrechen endete indessen auch nicht, als Bonn im Parlamentarischen Rat zur Hauptstadt gekürt worden war. Die Diskussion gewann noch an Schärfe, als in Bonn eine intensive Bautätigkeit im Rahmen der künftigen Rolle der Bundeshauptstadt begann. Der CDU-Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens Karl Arnold meinte im Sommer 1949 ein Machtwort zugunsten Bonns sprechen zu müssen:
"Die durch den Parlamentarischen Rat und auf demokratischem Wege zustande gekommene Entscheidung muss respektiert werden, wenn die Demokratie nicht durch die Demokraten selbst lächerlich gemacht werden soll."
Dennoch – nach der ersten westdeutschen Bundestagswahl Mitte August 1949 fing alles von vorn an. Denn natürlich hatte die erste frei gewählte Volksvertretung der Westzonen neuerlich über die Hauptstadtfrage abzustimmen. Am 3. November 1949 war es so weit.
"So groß wie der Zentralfriedhof von Chicago, aber doppelt so tot"
Überraschend, aber folgenreich hatte die SPD-Fraktion in eine "Geheime Abstimmung" eingewilligt. Praktischerweise vermochten so die insgeheimen Bonn-Befürworter unter den SPD-Abgeordneten ihrer Neigung nachzugeben. Mit 200 zu 176 Stimmen – bei drei Enthaltungen und elf ungültigen Stimmen - fiel die Entscheidung für Bonn eindeutig aus. Noch zur selben Stunde wurde ein Beschluss über den künftigen Status Berlins verabschiedet:
"Die leitenden Bundesorgane verlegen ihren Sitz in die Hauptstadt Deutschlands, Berlin, sobald allgemeine, freie, gleiche, geheime und direkte Wahlen in ganz Berlin und in der Sowjetischen Besatzungszone durchgeführt sind."
Doch die rheinische Kleinstadt, - nach einem bösen Wort des englischen Schriftstellers John le Carré so groß wie der Zentralfriedhof von Chicago, aber doppelt so tot -, spielte ihre Rolle als provisorische Hauptstadt länger als gedacht. Sie verlor ihren provisorischen Charakter zwar erst im Januar 1973, als Bundeskanzler Willy Brandt in seiner Regierungserklärung Bonn als Bundeshauptstadt anerkannte.
Aber es sollte bis zur deutschen Einigung dauern, bis der Bundestag schließlich am 20. Juni 1991 seinen Umzug nach Berlin beschließen konnte. Die überzeugendsten, für Bonn sprechenden Worte fand dabei einer der schärfsten Berlin-Befürworter, der Sozialdemokrat Wolfgang Thierse:
"Nach der Nazi-Diktatur hat diese Stadt geholfen, so wie sie war, hat diese Stadt geholfen, das Vertrauen in deutsche Politik im In- und Ausland wieder herzustellen."
Die Kleinstadtidylle als Garant einer gedeihlichen Entwicklung für die föderale Bundesrepublik - auch das gehört zu den Wahrheiten, die sich mit der Wahl Bonns zur Bundeshauptstadt verbinden.