Am Morgen des 16. Juli 1951 liegt in den Buchhandlungen auf der New Yorker Fourth Avenue ein brandneuer Roman im Schaufenster. Der Umschlag sticht sofort ins Auge: ein wildgewordenes rotes Karussellpferd auf weißem Grund und darüber in Druckbuchstaben der Titel "The Catcher in the Rye", "Der Fänger im Roggen".
Ein ungekannter Ton
Neugierige Kunden, die das Buch im Laden in die Hand nehmen, schauen auf der Rückseite einem attraktiven jungen Mann ins Gesicht: J. D. Salinger, kurze dunkle Haare, weißes Hemd, Krawatte und Tweed-Jackett, Jahrgang 1919, und, wie der Klappentext verrät, nach drei misslungenen Versuchen an verschiedenen Colleges, Verfasser von Kurzgeschichten, Veteran des Zweiten Weltkriegs. Spätestens jetzt schlagen die meisten die erste Seite auf:
"Wenn ihr das wirklich hören wollt, dann wollt ihr wahrscheinlich als Erstes wissen, wo ich geboren bin und wie meine miese Kindheit war und was meine Eltern getan haben und so", so steigt Salinger, der einige Teile seines Manuskripts wie einen Talisman an der französischen Front unter seinem Hemd trug, in die Geschichte seines Schulversagers Holden Caulfield ein und erteilt dem 16-Jährigen selbst das Wort.
"Wenn ihr das wirklich hören wollt, dann wollt ihr wahrscheinlich als Erstes wissen, wo ich geboren bin und wie meine miese Kindheit war und was meine Eltern getan haben und so", so steigt Salinger, der einige Teile seines Manuskripts wie einen Talisman an der französischen Front unter seinem Hemd trug, in die Geschichte seines Schulversagers Holden Caulfield ein und erteilt dem 16-Jährigen selbst das Wort.
Sein Tonfall, hier in der glänzenden Übersetzung von Eike Schönfeld, klang für amerikanische Ohren ungewohnt: kolloquial, respektlos, zotig:
"… dann wollt ihr den ganzen David-Copperfield-Mist wissen, aber eigentlich ist mir gar nicht danach, wenn ihr’s genau wissen wollt. Erstens langweilt mich der Kram, und zweitens hätten meine Eltern dann jeweils ungefähr zwei Blutstürze, wenn ich was ziemlich Persönliches über sie erzählen würde. Bei solchen Sachen sind sie schön empfindlich, besonders mein Vater."
Der Verlogenheit der Welt entkommen
Leistung, Anpassung, Wohlstand – für die Werte seiner Eltern hat Holden nur schnoddrige Schimpfwörter übrig. Der Verlogenheit der Welt entkommen höchstens Kinder, wie ein kleiner Junge, den er auf dem Broadway ein Lied singen hört: "Wenn einer einen fängt, der durch den Roggen kommt". Später am Abend schleicht sich Holden zu seiner Schwester Phoebe, und erzählt ihr davon.
"Jedenfalls stelle ich mir dabei immer lauter kleine Kinder vor, die in einem großen Roggenfeld spielen und so. Tausende von kleinen Kindern, und niemand ist da – also, kein Großer – nur ich. Und ich stehe am Rand eines verrückten Abgrunds."
Holden habe den Vers von Robert Burns falsch im Kopf, belehrt ihn Phoebe, doch seine Fantasien gefallen ihr.
"Und da muss ich alle fangen, bevor sie in den Abgrund fallen – also, wenn sie rennen und nicht aufpassen, wo sie hinlaufen, dann muss ich irgendwo rauskommen und sie fangen. Und das würde ich den ganzen Tag machen. Ich wär‘ einfach der Fänger im Roggen und so. Ich weiß, es ist verrückt, aber das ist das Einzige, was ich richtig gern wäre."
"Und da muss ich alle fangen, bevor sie in den Abgrund fallen – also, wenn sie rennen und nicht aufpassen, wo sie hinlaufen, dann muss ich irgendwo rauskommen und sie fangen. Und das würde ich den ganzen Tag machen. Ich wär‘ einfach der Fänger im Roggen und so. Ich weiß, es ist verrückt, aber das ist das Einzige, was ich richtig gern wäre."
"Eine bemerkenswerte Verrücktheit"
Als Salinger das Manuskript abgab, bescheinigte ihm auch sein Verlag Harcourt, Brace & Co eine bemerkenswerte Verrücktheit und verlangte umfassende Änderungen, was der Autor empört zurückwies. Er ging stattdessen zu Little, Brown & Co, wo man die Radikalität seines Romans sofort erkannte. Die Resonanz war enorm: Nur einen Tag nach der Veröffentlichung erschienen in allen großen Zeitungen Rezensionen. In der "Los Angeles Times" befand die Kritikerin Irene Elwood:
"‘Der Fänger im Roggen‘ ist so realistisch, dass es weh tut, und all die verwirrten Erwachsenen werden ihn zu ihrem eigenen Vergnügen verschlingen und ihn sofort vor ihren Kindern verstecken."
65 Millionen Mal verkauft
Im "New York Times Book Review" imitierte der Rezensent James Stern den Tonfall von Holden Caulfield und beschwerte sich über dessen Schicksal.
"Salinger ist ein Kurzgeschichtenautor und sein Roman zu lang. Wird eintönig. Und er hätte so einiges über diesen Deppen und diese dämliche Schule weglassen sollen. Die ziehen mich runter. Und wie."
Doch Holden Caulfield, der mindestens ebenso aufmüpfig wie Twains Huckleberry Finn und weitaus lässiger als Scott Fitzgeralds Großer Gatsby in Aktion trat, traf den Nerv einer ganzen Generation. Dass "Der Fänger im Roggen" sofort die Zensur auf den Plan rief und als moralisch verwerflich gebrandmarkt wurde, vermehrte nur seinen Ruhm.
Weltweit 65 Millionen Mal verkaufte sich der Roman bis heute, und von Billy Wilder, Jerry Lewis bis zu Steven Spielberg boten Regisseure mehr als zehn Millionen Dollar für die Filmrechte.
Aber J. D. Salinger hatte sich längst aufs Land zurückgezogen, wo er bis zu seinem Tod 2010 lebte. Holden Caulfield ist quicklebendig geblieben.