An einem Freitagmorgen im Oktober 1945 betrat ein abgerissener junger Mann den Eingang des Corso Umberto 75 im norditalienischen Turin. Es war sein Geburtshaus, er hatte fast sein gesamtes Leben hier verbracht. Die Portiersfrau erkannte ihn trotzdem nicht wieder. Der junge Mann kam aus Auschwitz.
"Ich habe mein Buch mit einer denkbar arglosen Haltung geschrieben, vollkommen naiv, das kann ich sagen. Einfach, um etwas loszuwerden, um Zeugnis abzulegen."
Primo Levi, 1919 als Sohn eines Ingenieurs geboren, gehörte zum jüdischen Großbürgertum und hatte Chemie studiert. Im Sommer 1943 war er in den Widerstand gegangen, gefangen genommen und deportiert worden. Sein Erfahrungsbericht über Auschwitz "Ist das ein Mensch?" entstand kurz nach seiner Rückkehr. Levi hatte eine Stelle in einer Farbenfabrik gefunden, wo er während der Mittagspause die ersten Kapitel in ein Schulheft kritzelte.
"Das Buch wuchs fast spontan unter meinen Händen, plan- und systemlos, verworren und überquellend wie ein Termitenhügel."
Das Turiner Verlagshaus Einaudi lehnte das Manuskript ab
In einer klaren, konzentrierten Sprache schildert Primo Levi die Ankunft in Auschwitz und den Alltag in dem Vernichtungslager.
"Jeder, der aus dem Tagesraum nackt in die Oktoberkälte tritt, muss die wenigen Schritte zwischen den Türen laufend vor diesen dreien zurücklegen, muss dem SS-Mann den Zettel überreichen und dann durch die Tür des Schlafraums wieder in die Baracke gehen. In dem Sekundenbruchteil zwischen zwei aufeinanderfolgenden Vorbeiläufen entscheidet der SS-Mann mit einem Blick von vorn und von hinten über das Geschick eines jeden, reicht seinerseits den Zettel dem zu seiner Rechten oder dem zu seiner Linken, und das heißt für jeden von uns Leben oder Tod."
"Die eindrücklichsten Teile des Buches sind vielleicht die, in denen Primo Levi wie ein Anthropologe wirkt, der das Vernichtungslager beschreibt und erklärt, wie es funktioniert. Er vermittelt die unfassbare Rationalität dieser Einrichtung, in der es Regeln gibt, und diese Regeln sind bewusst widersinnig und nur erfunden, damit sie gebrochen werden."
Der italienische Literaturwissenschaftler Gabriele Pedullà. Primo Levi hatte Glück. Ihm kam seine Ausbildung zugute, er wurde ins Labor der an Auschwitz angegliederten Buna-Werke versetzt, wodurch er zumindest tagsüber der bitteren Kälte entging. Im Januar 1945 räumten die Deutschen das Lager und verschleppten die Häftlinge. Levi hatte Scharlach; er blieb im Krankenbau und überlebte. Wie im Fieber schrieb er wenige Monate später alles auf. Doch das Turiner Verlagshaus Einaudi, in dessen engagiertes Programm Levi gepasst hätte, lehnte das Manuskript ab. Es erschien am 11. Oktober 1947 bei Antonicelli, einem kleineren Haus, wurde wohlwollend rezensiert, aber kaum verkauft.
Levi stürzte sich im Treppenhaus am Corso Umberto zu Tode
"In der unmittelbaren Nachkriegszeit nahm man die Vernichtung der Juden als eine von zahlreichen Grausamkeiten der Nazis wahr, neben den Massakern an italienischen Zivilisten und der Exekution von politischen Feinden. Als 'Ist das ein Mensch?' zum ersten Mal herauskam, gab es in Italien entweder den Partisanen oder das Opfer. Und die politische Kultur war damals so, dass der Partisan besser passte, weil er die Ehre des Landes wiederherstellte. Ein Opfer ist wehrlos, und das war nicht die Haltung, die man in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg brauchte. Levi schien keine Öffnung in Richtung Zukunft zu haben. Damals ging es um eine engagierte Literatur. Heute wirken diese Bücher mit ihrem dröhnenden Tonfall auf unerträgliche Weise ideologisch, während Levis Kraft gerade darin besteht, auf leise, gedämpfte Weise zu erzählen, so als würde er kaum je die Stimme erheben."
1958 brachte Einaudi "Ist das ein Mensch?" in einer erweiterten Ausgabe dann doch heraus. Es wurde ein Welterfolg; Levi schrieb weiter und zählte bald zu einem der wichtigsten Schriftsteller Italiens. Am 11. April 1987 stürzte sich Primo Levi im Treppenhaus am Corso Umberto mit knapp 68 Jahren zu Tode. Die Frage, die sein Buchtitel "Ist das ein Mensch?" angesichts der Auschwitzerfahrung formuliert, hat an Dringlichkeit nichts verloren.