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Vor 70 Jahren in Los Alamos
Als Louis Slotin durch ein Missgeschick stark verstrahlte

Die Atombombe wurde von den USA mit viel Geld und Personal entwickelt, aber auch unter großem Zeitdruck. Die Folge war ein sorgloser Umgang mit dem hochgefährlichen Waffenmaterial. Der endete für einige tödlich - auch für den kanadischen Physiker Louis Slotin. Vor 70 Jahren wurde er bei einem Experiment in Los Alamos verstrahlt.

Von Frank Grotelüschen |
    Atombombenabwurf auf Hiroshima - historische Aufnahme.
    Atombombenabwurf auf Hiroshima (picture alliance / AP Images)
    In der Wüste von New Mexico stieg am 16. Juli 1945 ein gewaltiger Rauchpilz in die Höhe, die USA hatten die erste Atombombe der Welt gezündet, Codename Trinity. Wenige Wochen später, am 6. und 9. August, fielen die Bomben auf Hiroshima und Nagasaki. Damit war zwar der Zweite Weltkrieg beendet. Dennoch arbeiteten die USA fieberhaft weiter an der neuen Bombentechnik.
    "Im Januar 1946 wurde bekannt gegeben, dass es die nächsten Waffentests geben sollte, die Operation Crossroads. Als Testgelände war das Bikini-Atoll im Pazifik ausersehen. Im Juli sollten dort mehrere Bomben zünden, eine im Wasser, eine andere sollte von einem Flugzeug abgeworfen werden. Und ich sollte das Team leiten, das die atomaren Sprengsätze in die Bomben einbaut.”
    Hantieren mit Waffenkern aus Plutonium
    Raemer Schreiber war einer der leitenden Ingenieure des US-Kernwaffenprogramms. Das Ziel der Operation: Die Militärs wollten wissen, wie sich die Explosionen auf die Einsatzfähigkeiten von Schiffen und Flugzeugen auswirken. Vorbereitet wurden die Sprengsätze in Los Alamos, der amerikanischen Atomwaffenschmiede. Zu Schreibers Team zählte auch Louis Slotin, ein kanadischer Physiker, dessen jüdisch-orthodoxe Eltern vor den Pogromen im Russischen Zarenreich geflohen waren. Doch bevor Slotin in den Pazifik aufbrechen konnte, musste er seinen Ersatzmann in Los Alamos einarbeiten. Dazu zählte eine höchst heikle Aufgabe – das Hantieren mit einem Waffenkern aus Plutonium.
    "Der Kern bestand aus etwa sechs Kilogramm Plutonium. Um ihn herum befanden sich zwei Halbkugeln aus Beryllium. Je dichter man die obere Halbschale an die untere hielt, umso stärker schlugen die Strahlungsmesser an."
    Einarbeitung eines Kollegen
    Solange die beiden Halbkugeln nicht zu einer Kugel geschlossen waren, war der Plutoniumkern "unterkritisch" – eine atomare Kettenreaktion blieb aus. Dieses Prinzip wollte Slotin seinem Kollegen am Nachmittag des 21. Mai 1946 demonstrieren.
    "Ein verlockendes Spielchen. Doch sobald man den Mindestabstand unterschritt, wurde das Ding kritisch, und zwar viel schneller als man reagieren konnte. Slotin senkte die obere Halbkugel langsam ab, und zwar mit Hilfe eines Holzkeils und eines Schraubenziehers. Ich arbeitete gerade im selben Labor ein paar Meter entfernt. Plötzlich rutschte Slotin die Halbkugel ab, sodass sie auf der unteren aufsetzte. Sofort wurde das Ding kritisch, die Kettenreaktion begann, und es gab einen blauen Blitz. Doch Slotin behielt einen kühlen Kopf: Er nahm die Halbkugel wieder ab und schleuderte sie mit einem lauten Scheppern zu Boden.”
    Acht Männer waren im Raum, fluchtartig verließen sie das Labor, sagt Richard Malenfant, ein ehemaliger Los-Alamos-Physiker in einem Interview mit der Atomic Heritage Foundation.
    "Draußen forderte Slotin die Leute auf, das Kleingeld aus den Taschen zu holen, um zu messen, wie radioaktiv die Münzen geworden waren. Außerdem hielt er jedem einen Geigerzähler unter die Achseln. Dadurch ließ sich abschätzen, wie stark die Männer durch den Unfall verstrahlt worden waren.”
    Nicht der erste tödliche Unfall
    Die meisten hatten zwar eine hohe, aber keine lebensgefährliche Dosis abbekommen. Louis Slotin aber war durch sein Missgeschick so stark verstrahlt worden, dass er neun Tage später einen qualvollen Tod starb. Es war nicht der erste tödliche Atomunfall in Los Alamos: Im August 1945 war der Physiker Harry Daghlian bei einem Experiment mit demselben Plutonium-Kern verstrahlt worden.
    "Nach diesen Unfällen wurde ein Report verfasst, der neue Sicherheitsmaßnahmen vorschlug. Diese Empfehlungen bilden bis heute die Grundlage für den Umgang mit nuklearem Waffenmaterial.”
    So war es fortan verboten, heikle Tätigkeiten per Hand zu erledigen – das musste ferngesteuert geschehen. Die Operation Crossroads aber wurde trotz des Unfalls durchgezogen, und zwar wie geplant.
    Am 1. Juli 1946 detonierte im Bikini-Atoll eben jener Plutonium-Kern, der Louis Slotin zum Verhängnis geworden war.