"Als ich im Jahre 1942 anfing, an diesen Sachen in Amerika zu arbeiten, da haben mich meine amerikanischen Kollegen gefragt: Ja, stimmt das alles, können wir das beweisen? Und ich sagte, das können wir hundertprozentig beweisen. Das war aber gar nicht mal zutreffend. In Nürnberg hab ich später gesehen, dass die Dinge nicht hundertprozentig wahr waren, sondern fünfhundertprozentig."
Robert W. Kempner, Mitglied im Stab des amerikanischen Hauptanklägers Robert Jackson während des ersten Nürnberger Prozesses ab dem 20. November 1945, hatte recht: Die Beweise für die deutschen Verbrechen waren nicht zu leugnen. Doch der einstige Berliner Staatsanwalt und Justiziar der Preußischen Polizei - noch 1935 war ihm die Flucht aus Deutschland gelungen -, wusste aus eigener Erfahrung in der Zeit vor 1933 auch, wie schwer es war, die braunen Verbrecher zu einem Geständnis, gar zur Einsicht oder Reue zu bewegen.
Das galt für Julius Streicher, personifizierter Inbegriff des Antisemitismus, ebenso wie für den so eitlen wie dumpfen NS-Außenminister Joachim von Ribbentrop. Der Verhörspezialist Joseph Maier, der die Angeklagten zu befragen hatte, erinnerte sich:
"Die ganze Mannschaft, alle jammerten sie und bestanden darauf, sie seien nur ausführende Organe des Führers gewesen."
Kein Wunder, dass sich die Angeklagten als nicht schuldig bekannten - ob sie nun wie Göring versuchten, zuvor noch eine Erklärung abzugeben oder, wie im Falle Rudolf Heß, mit einem Heiterkeit erregenden "Nein" antworteten:
"Bevor ich die Frage des Gerichtshofes beantworte, ob ich mich schuldig oder nicht schuldig bekenne, bekenne mich im Sinne der Anklage nicht schuldig. Rudolf Heß! / Nein!"
Ausgeklügelt, bösartig und verheerend
So saßen nun also bis zum 1. Oktober 1946, wie es Erich Kästner, einer der deutschen Prozessbeobachter, charakterisierte: "der Krieg, Pogrom, der Menschenraub, der Mord en gros und die Folter auf der Anklagebank. Riesengroß und unsichtbar sitzen sie neben den Angeklagten."
Vier Punkte umfasste die Anklageschrift, die den Beschuldigten aus Politik, Militär und Wirtschaft zuvor zugegangen war: Verschwörung gegen den Weltfrieden; Planung und Durchführung eines Angriffskrieges; Verbrechen und Verstöße gegen das Kriegsrecht und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Delikte wie "Verbrechen gegen die Menschlichkeit", "Planung eines Angriffskrieges" oder ein Begriff wie "Völkermord" waren indessen zum Zeitpunkt ihrer Realisierung nicht Bestandteil des Völkerrechts. Jemanden deshalb anzuklagen, widersprach dem Rechtsgrundsatz: keine Strafe ohne ein Gesetz. Doch sollten deshalb die Mit-Verantwortlichen davon kommen? Chefankläger Jackson:
"Die Untaten, die wir verurteilen und bestrafen wollen, waren so ausgeklügelt, so bösartig und so verheerend, dass die zivilisierte Welt sie nicht ignorieren kann, weil sie ihre Wiederholung nicht überleben würde."
Tod, Freisprüche und Gefängnisstrafe
Die deutsche Bevölkerung hielt den Prozess - wie übrigens die meisten Angeklagten auch - für einen Willkürakt der Sieger und die Urteile für vorbestimmt. Doch dem war nicht so: der erste Nürnberger Prozess endete zwar für die meisten mit dem Tod durch Erhängen, aber auch mit Freisprüchen und Gefängnisstrafen. Überdies setzte der Prozess völkerrechtliche Maßstäbe für die Zukunft. Es war das erste Mal, so der Völkerrechtler Gerd Hankel, "dass politisch Verantwortliche sich nicht hinter ihrem Schreibtisch verschanzen konnten, sondern strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wurden. Es war nicht nur der kleine Täter, der direkte Täter vor Ort, es waren die politischen Entscheider, es waren die, die bis dato politische Immunität genossen hatten."
Dabei war schon im Londoner Abkommen vom 8. August 1945, das den Prozess vorbereitete, festgelegt worden: Das in Nürnberg angewandte Recht hatte künftig für alle, auch für die Sieger zu gelten. Eine Verpflichtung, die bereits zwei Tage nach dem ersten Atombombenabwurf auf Japan festgeschrieben wurde - ein Kriegsverbrechen, das völkerrechtlich folgenlos bleiben sollte.
Das waren keine guten Vorzeichen für die Zukunft. Zwar ermöglichte das Ende des Kalten Krieges schließlich einen Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Aber bis heute verweigert sich ihm eine illustre Schar von Staaten, zu denen neben den USA auch etwa Nordkorea oder der Iran gehören.